Von gedankenlosen Mitmenschen und mitdenkenden Persönlichkeiten

Frau mit Blindenstock in einer Fußgängerzone, wobei nur die Beine und der Stock zu sehen sind

An einem Samstag zum Zahnarzt zu müssen, ist wahrlich kein guter Wochenendeinstieg. Aber wenn die Schmerzen nicht mehr auszuhalten sind, geht es nicht anders. So erging es mir vor einigen Wochen.

Endlich an der Reihe, wurde ich ins Behandlungszimmer geleitet. Der Zahnarzt kam und ich teilte ihm, neben meinen Schmerzen, kurz mit, dass ich blind bin, damit er Bescheid wusste. Der gute Mann, ohnehin mit einem kräftigen Organ ausgestattet, nahm dies zum Anlass, mit mir in extremer Lautstärke zu sprechen, so, als hätte ich ihm mitgeteilt, hochgradig schwerhörig zu sein. "Bitte Mund aufmachen, locker lassen, Kopf schön zu mir drehen!" schrie er er mich fast an. In meiner Not ließ ich alles über mich ergehen und folgte brav seinen Anweisungen, denn der Weisheitszahn musste raus und so geschah es letztlich. Während der Behandlung merkte der Arzt offensichtlich, dass ich auch reagierte, wenn er leiser bzw. normal mit mir sprach. Am Ende redete er mich sogar mit "Frau Kochanek" an. Erwidern konnte ich mit der Betäubung im Mund nicht viel, aber dieser Morgen blieb im Gedächtnis.

Nicht nur, dass manche Menschen, von denen ich zum Glück nicht allzu viele erlebt habe, meinen, sehr laut mit blinden Personen sprechen zu müssen, mehr noch. Man kann mit beeinträchtigten Menschen umgehen wie mit kleinen Kindern. Ebenso ist es nicht unüblich, gar nicht mit der Person selber, sondern mit der Begleitung zu reden. "Welche Größe hat sie denn?" bin ich häufiger in Geschäften gefragt worden. "Möchte sie die Schuhe mal anprobieren?" "Ja gern", erwidere ich dann betont, "Bitte geben Sie mir die Schuhe in die Hand oder stellen Sie sie vor mich hin. Welche Farbe haben sie denn?" Allmählich wird der Verkäuferin/dem Verkäufer klar, dass ich Schuhe suche, nicht mein Mann, meine Freundin oder jemand anders. Meine Tante dreht sich bewusst weg, wenn die Kommunikation mit ihr und nicht mit mir vonstattengeht.

Einmal ging ich in Düren, wo meine Eltern leben, mit meiner Mutter einkaufen. An der Kasse zahlte ich die Ware. Der Verkäufer meinte daraufhin zu meiner Mutter in unverkennbarem, rheinischem Dialekt: "Dat jeht ja schon schön. Kann se dat Jeld fühlen?" "Nee, dat kann isch rieschen, wie dat mal ein Kandidat bei "Wetten dass…" Jemacht hat." Platzte es aus mir heraus. Der Verkäufer sagte nichts mehr und wir verließen lachend den Laden.

Ebenfalls ist mir passiert, dass ich mit meinem weißen Stock unterwegs war und hörte, dass sich ein Stück von mir entfernt mehrere Personen unterhielten. Ich ging auf die Gruppe zu, weil ich in diese Richtung musste. Plötzlich Schweigen im Walde bzw. auf dem Bürgersteig. Die Leute hatten aufgehört zu reden und ich spürte genau, dass sie mich anglotzten. Ich verlangsamte meine Schritte, damit ich mit den Ohren herausfinden konnte, wo die Personen standen. Tatsächlich hörte ich eilige Schritte, die auseinanderliefen, um mir Platz zu machen. Ich war noch nicht weit von der Gruppe entfernt, da hörte ich sie wieder miteinander sprechen, erst tuschelnderweise, dann lauter. Ich überlegte, mich zu ihnen umzudrehen, ließ es dann aber bleiben. Manchmal fällt einem einfach nichts mehr dazu ein.

Aber - man stelle sich vor: Es geht anders! So war ich vor einiger Zeit mit einer Freundin shoppen. Wir betraten ein Bekleidungsgeschäft und meine Freundin begann mir zu beschreiben, welche Jacken angeboten wurden. Da kam die Verkäuferin auf uns zu und fragte mich, was ich suchen würde, welche Farbe ich bevorzugte, und ob ich die herausgesuchten Jacken einmal anprobieren wollte. Als ich die erste Jacke angezogen hatte, meinte die Verkäuferin ehrlich: "Oh nein, diese Jacke steht Ihnen nicht. Die Farbe trägt auf und die Ärmel sind zu lang." Meine Freundin und ich stimmten zu. Nach einer Weile fanden wir, in entspannter Atmosphäre, das passende Kleidungsstück.

Lebhaft kann ich mich an eine Begebenheit aus meiner Studienzeit in Stuttgart erinnern. Es war Winter und überall lag Schnee. Ich ging von der Wohnung zur S-Bahn und erst schien alles gut zu gehen. Doch auf einmal war für mich kein Weg mehr erkennbar. Ich versuchte, den Stock unter den Schnee zu schieben, um festen Boden auszumachen. Unterdessen schneite es wieder und ich stapfte ziellos umher. Plötzlich hörte ich eine Stimme neben mir. Ein Herr fragte freundlich, ob er mir helfen könnte und wenn ja, wie. Ich erklärte, dass ich zur S-Bahn müsste und fragte ihn, ob er mich dorthin begleiten würde. "Natürlich. Ich muss in die gleiche Richtung. Und wenn nicht, wäre das auch kein Problem." Ich hakte mich bei ihm ein und los ging es.

Abschließend ein anderes Beispiel für mitdenkende Menschen.

Vor ungefähr zehn Jahren verwirklichte ich mir einen langgehegten Traum: Ich wollte Saxophon lernen. Wo sucht man nach einem geeigneten Lehrer? Erst mal in der städtischen Musikschule. Ich schilderte meine Situation und sagte dem Musikschulleiter gleich, wie ich am besten lernen würde. (dazu mehr in einem späteren Artikel). Der damalige Leiter meinte, Tage später, es sei unmöglich, mich zu unterrichten. Man könnte mir ja keine Noten hinlegen. Bei einer anderen privaten Musikschule hatte ich ebenfalls kein Glück. Am Ende hieß es, der Versuch könnte gestartet werden, aber nur vormittags zu einer bestimmten Uhrzeit. Da ich berufstätig bin, fiel das ebenfalls aus. Ich gab nicht auf und forschte weiter. Schließlich stieß ich auf eine weitere, kleine private Musikschule. Ich schrieb eine E-Mail mit meiner Anfrage dorthin mit der Bitte, sich bei mir zu melden. Am nächsten Tag klingelte mein Handy. Die Chefin der Musikschule war am Telefon. Sie zeigte sich sehr aufgeschlossen und fragte, ob es für mich an einfachsten wäre, wenn sie zu mir nach Hause käme. Sie würde ein Leihinstrument mitbringen und die erste Stunde sei kostenlos. So geschah es, dass ich bald danach meinen Traum realisieren konnte und heute mit Begeisterung Saxophon spiele. Zu der Lehrerin habe ich immer noch Kontakt.

Anhand dieser Beispiele, von denen sich Weitere aufzählen lassen, möchte ich darlegen, dass es sich durchaus lohnt, ein bisschen mitzudenken und seinen Mitmenschen entgegenzukommen - ob mit oder ohne Handicap.


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