Sehen - nur nicht mit den Augen!

Illustration der 5 menschlichen Sinne

Nehmen wir mal unsere berühmten fünf Sinne:

Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken.

Was aber, wenn das Sehen nicht funktioniert?

Für viele Menschen ist diese Vorstellung unheimlich, ja, quasi undenkbar.

Nun muss ich dazu sagen, dass ich seit meiner Geburt nicht sehen kann. Dadurch habe ich mich immer schon auf meine anderen Sinne konzentriert/spezialisiert.

"Aber wie machst du das denn alles, ohne zu gucken?" werde ich oft gefragt. Die Fragen sind vielfältig. Von: "Wie räumst du deine Spülmaschine ein" über "Woher weißt du, wann eine Bäckerei kommt" bis hin zu: "Wie kannst du ein Smartphone bedienen? Da bist du doch auf ein Display angewiesen."

Antwort auf Frage Nummer eins: Eine Spülmaschine räumen die meisten Hausfrauen/Hausmänner/Homeofficer nach Gefühl ein. Einige haben eine bestimmte Ordnung, andere nicht. Da ist es völlig gleich, ob man sehen kann oder blind ist. Meine Hände erkunden zuerst, wie viel Platz in welchem Fach ist und wo am besten die Gläser, Teller, Tassen … Platz finden. Dabei habe ich eine bestimmte Ordnung, halte mich aber nicht immer streng daran.

Antwort auf Frage Nummer 2: Eine Bäckerei erkennt man eindeutig am Geruch. Versuchen Sie mal, die Augen zu schließen, wenn Sie mit jemandem durch eine Einkaufspassage bummeln und sagen Sie dann Ihrem Begleiter, wann die Bäckerei kommt. Der einladende Duft von frisch Gebackenem ist nicht zu "überriechen". Genauso sieht es mit Blumenläden aus.

Vor einigen Jahren war ich zum ersten Mal bei meinem neuen Zahnarzt (auch dessen Praxis ist am Geruch eindeutig zu erkennen). Im Haus des Zahnarztes befindet sich, direkt neben dem Eingang, ein Blumenladen. Ich sagte zu meinem Mann: "Wenn wir den Zahnarzt hinter uns haben, nehmen wir zur Belohnung einen Blumenstrauß mit" Mein Mann stutzte kurz und antwortete: "Ja. Machen wir."

Frage Nummer 3: Ein Smartphone ist auch aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken. Jedes iPhone verfügt über die Sprache "VoiceOver", welche man direkt nach dem Kauf des Gerätes aktivieren kann. Dies muss beim ersten Mal eine sehende Person tun. Danach wird alles, was auf dem Display erscheint, gesprochen, z.B., welche Apps sich auf dem iPhone befinden. Aktiviere ich eine App durch einen Doppeltipp mit dem Finger, ertönt ein Signalton. Somit weiß ich, dass die App geöffnet wurde und ich mich mit entsprechenden Wischgesten durch deren Inhalt bewegen kann.

Möchte ich den Inhalt lieber mit den Fingern lesen, verbinde ich eine Braillezeile mit dem iPhone. Auf diese Weise werden die Augen durch Gehör und Finger ersetzt.

Genau wie meine sehenden Mitmenschen benutze ich die Ausdrücke "Sehen, gucken, anschauen“.

Ein Freund von mir hatte sich eine Gitarre gebaut und brachte sie mit. Ich fragte ihn sofort: "Kann ich die mal sehen? Ich bin ganz gespannt." Er gab sie mir in die Hände und beschrieb mir deren Aussehen. Auch das ist mir nämlich sehr wichtig, da ich im Kopf ganz eigene Farbvorstellungen habe.

Wenn mir jemand etwas zeigt, heißt es: "Anne, schau mal. Ich habe eine neue Frisur." (Diese freudige Feststellung werden wir nun wieder machen können).

Jetzt haben wir die Sinne Hören, Riechen und Tasten behandelt, nicht zuletzt als Ersatz für den Sehsinn. Fehlt noch das Schmecken.

Ich weiß nicht, ob dieser Sinn bei mir anders funktioniert als bei sehenden Menschen. Als kleines Kind mochte ich, wie viele Kleinkinder, keinen Spinat. Mein Mann erzählte mir, als er klein war und die Flasche mit dem grünen Zeug sah, fing er an zu protestieren. Bei mir wurde der Protest durch den ersten Löffel ausgelöst, den man mir in den Mund schob, folglich ein bisschen später als bei einem sehenden Kind. Jedoch ist die Wirkung letztlich die gleiche.

Zum Schluss möchte ich etwas beschreiben, das alle Sinne betrifft und so wohltuend ist: Waldbaden.

Sehr häufig gehen mein Mann und ich am frühen Abend in den Wald. Manchmal haben wir ein Aufnahmegerät und ein Richtmikrofon dabei. Je mehr man in den Wald kommt, desto intensiver werden die Sinne angeregt: Die Luft riecht würzig und frisch. Ein Bach plätschert und die Vögel überbieten sich in ihrer Sangeskunst. Ab und zu konzentriere ich mich darauf, bestimmte Vogelstimmen herauszuhören, wie Amseln, Singdrosseln oder Rotkehlchen. Am schönsten ist es, einfach die gesamte Atmosphäre in sich aufzunehmen und, im wahrsten Sinne des Wortes, im Wald zu baden. An einem besonders großen Baum bleiben wir stehen. Ich lasse ich die Hände über dessen rauen, bemoosten Stamm gleiten und nehme diese Wahrnehmung völlig in mich auf. Dabei fällt der Alltagsstress von mir ab und weicht wohliger Entspannung.

Der eigene Garten eignet sich allerdings ebenfalls sehr gut dazu. Einfach die Natur mit allen Sinnen einatmen und für eine gewisse Zeit das ständig arbeitende Gehirn ruhen lassen,  empfehle ich gerne weiter!


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