Wir sehen uns - nicht nur mit den Augen

Frau hält sich die Augen zu, auf den Handrücken sind Augen gezeichnet; oben links Störer "Annes Blog"; oben rechts Logo Papenmeier RehaTechnik; unten Text "Wir sehen uns - nicht nur mit den Augen"

"OK", schließe ich ein ganz normales Telefongespräch mit einer Bekannten ab,"Wir sehen uns morgen. Ich freu mich." Kurzes Schweigen ihrerseits. "Ist was?", frage ich irritiert. "Sehen ist gut - in deinem Fall." Sagt sie schließlich und lacht verlegen. "Dann nehmen wir doch besser treffen", schlägt sie vor. "Warum?", entgegne ich. "Na, ja", sie zögert. "Aber du kannst doch nicht sehen." "Darf ich also nicht sagen: Wir sehen uns?" gebe ich zurück. "Wenn wir uns morgen begegnen und ich begrüße dich, wir umarmen uns, ich streiche dir übers Haar, um deine neue Frisur zu begutachten - dann sehe ich auf meine Art - nicht mit den Augen, aber mit den Fingern, den Ohren, mit allen anderen Sinnen." Schweigen. "Außerdem", fahre ich fort, "Soll ich stattdessen sagen: Ich freue mich auf unser - wiedertreffen? Oder Wiederfühlen?" "Du benutzt die Begriffe "sehen, schauen, gucken" so wie wir?" schlussfolgert sie. "Korrekt. Ganz selbstverständlich." Antworte ich "dann kannst du dir auch meinen neuen Pullover an…" Sie zögert. "Na?", frage ich und grinse in mich hinein. "Anschauen." Sagt sie schließlich. "Ich beschreibe dir, wie er aussieht. Außerdem hat er einen angenehm weichen Stoff." "Cool", antworte ich, "bis morgen."

Für Menschen, die mich länger kennen/die ich länger kenne, ist es völlig normal, die visuellen Begriffe bei mir genauso zu gebrauchen wie bei Sehenden. Es ist sogar schon passiert, dass mir jemand etwas unter die Nase hielt und "Guck mal", sagte. Daraufhin erklärte ich: "Schön. Wenn du mir es jetzt in die Hand gibst oder beschreibst, kann ich noch besser gucken." Es mag anfangs für den Ein- oder Anderen verwirrend sein, wenn ein blinder Mensch sich dieser Begriffe bedient, aber warum? Wer sagt, dass man nur mit den Augen sehen kann? Die übrigen Sinne werden oft vernachlässigt und mit ihnen kann man eine ganze Menge sehen. Bin ich mit jemandem unterwegs, ergänzen wir uns gegenseitig. Mein sehender Begleiter beschreibt mir, was mit den Augen wahrgenommen wird. Ich beschreibe der Person hingegen, was man mit den Ohren oder den Händen sieht. Oft stellt daraufhin mein Begleiter fest: "Ach, das habe ich so gar nicht gesehen. Auf die Details habe ich nicht geachtet" und streicht ebenfalls mit den Händen über einen Gegenstand, einen Stoff oder eine Frisur.

Häufig merke ich mir, was eine sehende Person beschreibt. Als ich mit meinem Mann letzten Sommer im Bregenzer Wald auf einer Bergwanderung unterwegs war, sagte ich zu ihm: "Du, da rechts geht es zum Glatthorn, mit dem Hinweis "Nur für Geübte". Erstaunt meinte er: "Stimmt genau. Und da wir nicht ganz so geübt sind, wandern wir hier lieber weiter."

Jeder von uns sagt: "Mal sehen", "Ich guck das nach" oder "Den Text schau ich mir später an." Wieso sollte ein blinder Mensch die Floskeln nicht genauso verwenden wie ein Sehender? Heutzutage heißt es nicht mehr so oft: "Auf Wiedersehen", sondern eher "Tschüss, ciao, mach's gut", und dennoch wird diese etwas aus der Mode gekommene Grußformel noch genutzt. Das Englische "See you" ist allgegenwärtig, auch in Deutschland. Ebenso sagt man ständig Sätze wie: "Siehst du? Wusste ich es doch." oder: "Wie du siehst, ist die Sache kompliziert."

Webseiten und Blindenvereine nutzen nicht selten Slogans wie "wir sehen anders" oder "Wir sehen weiter". Jedes Jahr im Herbst findet die "Woche des Sehens" statt, in der Themen rund ums Sehen/schlecht Sehen/nicht Sehen behandelt werden.

Neben vielen Vorträgen und Informationen gibt es zahlreiche Aktionen, bei denen man beispielsweise ein Computerspiel über die Ohren machen und sich an den Geräuschen orientieren muss. Dabei bleibt der Monitor dunkel. Verschiedene Materialien können ertastet, Kräuter und Gewürze "errochen" werden.

Was folgt daraus? Nicht nur der Sehsinn wird angesprochen, sondern vor allem die anderen Sinne, über die man erfahren/sehen kann.  

Als ich vor einigen Jahren auf der Weihnachtsfeier eines Blindenvereins Saxofon spielte, fragte mich eine blinde Dame danach, ob sie sich das Instrument mal anschauen könnte. Das war natürlich kein Problem!

Während meiner langjährigen Tätigkeit als Beraterin von blinden/sehbehinderten Kunden stelle ich manchmal fest, dass spät erblindete Menschen sich schwerer tun, diese Begriffe ganz normal zu verwenden. So meinte ich vor einigen Wochen bei einer Vorführung zu einer älteren fast blinden Dame: "Schauen Sie sich die großen Tasten des Daisyabspielgerätes an. Sie haben alle eine unterschiedliche Form." Die Dame erwiderte etwas verbittert: "Ich sehe die Tasten nicht mehr. Wie soll ich sie mir denn anschauen?" Ich nahm ihre Hand und zeigte ihr die Tasten auf der Geräteoberfläche. "Stimmt", antwortete sie, "Ich muss erst lernen, auf diese Weise zu sehen."  

Kommen wir am Ende dieses Artikels von den Sinnen zu einem Bestandteil des Körpers, ohne welchen es sich nicht leben lässt und der ununterbrochen schlägt.

Der weltbekannte Autor Antoine de Saint-Exypéry hat in seinem poetischen Werk "Der kleine Prinz" eine Aussage gemacht, die treffender und wahrer nicht sein kann: "Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar."


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