Auf den Punkt gebracht - meine Erfahrungen mit der Brailleschrift

Seit meiner Geburt kann ich nicht sehen, aber lesen konnte ich bereits vor meiner Grundschulzeit.  Genau wie manch sehendes Kind war ich wissbegierig und wollte lesen lernen. Mein Vater hatte die gute Idee, Legosteine mit kleinen Nägeln zu bestücken, welche die Braille- Blindenschriftbuchstaben darstellten.

Punktschrift "Ball"

Die Grundform der Brailleschrift besteht aus sechs Punkten. Daher wird sie auch als Punktschrift bezeichnet. Jedes Zeichen setzt sich aus unterschiedlichen Punktkombinationen zusammen. Dazu stelle man sich die Sechs auf einem Würfel vor. Auf der linken Seite sind drei Punkte untereinander, die in der Brailleschrift als Punkte 1,2,3 bezeichnet werden. Auf der rechten Seite liegen, ebenfalls untereinander, die Punkte 4,5,6. Ein kleines A besteht aus einem einzigen Punkt, dem Punkt 1. Möchte man ein kleines B schreiben, so sind dies die Punkte 1,2. Ein kleines L setzt sich aus den Punkten 1,2,3 zusammen. Jetzt kann man bereits das Wort "Ball" schreiben bzw. lesen. Natürlich können auch Großbuchstaben dargestellt werden sowie Zahlen, Satzzeichen, Mathematikschrift, Chemiesymbole oder Musiknotenschrift.

Im Übrigen wurde die Brailleschrift im 19. Jahrhundert von einem als Kind erblindeten Franzosen, Lehrer und Organisten, Louis Braille (1809-1852), erfunden, welchem sie ihren Namen verdankt. 1879 hielt die Blindenschrift in Deutschland Einzug.

Aus meinem Buchstabenspiel mit den Legosteinen wurden schnell erste Texte, dann Kinder- und Jugendbücher. Diese las ich besonders gern nachts unter der Bettdecke. Jedoch las ich nicht nur gern, ich verfasste schon im Grundschulalter Geschichten und Gedichte. Zum Schreiben benutzte ich eine Braille-Schreibmaschine. Mit den sechs Tasten und der Leertaste schrieb ich alles auf, was mir in meinem Kinderkopf herumspukte. Lesen konnte ich das Geschriebene sofort auf festem Braille-papier, was ich zuvor in die Maschine eingespannt hatte.

Die Leidenschaft des Lesens und des Schreibens ist bis heute geblieben, allerdings bediene ich mich nun elektronischer Hilfsmittel wie Computer, Smartphone und Braille-Notizgerät. So lässt sich das Smartphone mit einem kleinen Braille-Notizgerät koppeln. Alles, was ich schreibe, wie Emails, Whatsapps, Texte jeglicher Art etc. wird mit den Braille-Tasten des Notizgerätes geschrieben und im Smartphone abgespeichert. Auf der kleinen Braillezeile des Notizgerätes kann ich das Geschriebene lesen. Per USB oder Bluetooth verbindet man, genau wie beim Smartphone, ein Braille-Notizgerät mit PC oder Laptop.

Die sechs grundlegenden Braille-Punkte haben im sogenannten Computerbraille zwei Punkte hinzugewonnen, nämlich die Punkte 7 und 8. Punkt 7 wird zum Verwenden von Großbuchstaben, Punkt 8 zum Darstellen von Umlauten verwendet. Braucht man für das Ankündigen von Zahlen in 6-Punkt-Braille ein spezielles Zahlenzeichen, so ist dies in Computerbraille durch den zusätzlichen Punkt 7 nicht mehr notwendig.

Ebenfalls ist es mir möglich, auf einer regulären PC-Tastatur zu schreiben und das Geschriebene auf einer Braillezeile zu lesen. Die Braillezeile befindet sich vor der Tastatur des PCs und bildet ab, was ein sehender Anwender auf dem Bildschirm erhält.

Während es für mich als geburtsblinde Person völlig normal und leicht war, Braille lesen und schreiben zu lernen, fällt es spät erblindeten Menschen oft viel schwerer, vom Visuellen aufs Taktile umzusteigen. In meiner Arbeit als Kundenberaterin treffe ich auf viele Personen, die im Alter erblinden und Punktschrift nur mühsam oder gar nicht mehr lernen. Mit Hilfe von Sprachausgabe sowie digitaler Hörmedien können sie auf Literatur zugreifen. Dennoch würde ich niemandem abraten, die Brailleschrift zu lernen, zumindest einfache Grundlagen, sofern ein gewisser Tastsinn vorhanden ist. Auf diese Weise kann man zum Beispiel die Punktschrift auf Medikamentenpackungen lesen oder bei Bedarf selbst etwas beschriften. Ebenso erachte ich es als wichtig, selbst lesen zu können, ohne ausschließlich auf auditive Informationen angewiesen zu sein.

Relief-Braille-Kalender

Kinder lernen die Punktschrift meistens in einer Förderschule für Sehbehinderte oder, beim Besuch einer Regel-Grundschule, mit Hilfe von Betreuungs- bzw. Inklusionslehrern. Zur Förderung des Tastsinns gibt es bei verschiedenen Blindenbüchereien, wie beispielsweise der deutschen Zentralbücherei für Blinde zu Leipzig (DZB), sehr schön gestaltete Relief-Kinderbücher.

Für spät erblindete Erwachsene werden ebenfalls Kurse und entsprechendes Material zum Erlernen der Brailleschrift angeboten. Einige bekannte Blinden-Einrichtungen sind die DZB in Leipzig, die Blindenstudienanstalt (Blista) Marburg oder der Bayerische Blindenbund in München.

Ebenso gibt es Kurse und Computerprogramme für Sehende, die sich für Braille interessieren und sich mit der Punktschrift befassen möchten, um zum Beispiel blinde Menschen zu unterstützen, zu beraten oder zu schulen.

Ein Leben ohne Brailleschrift kann ich mir nicht vorstellen, sei es im beruflichen oder im privaten Bereich. Beim Erlernen von Fremdsprachen finde ich es wichtig zu wissen, wie Wörter im Englischen, Französischen oder Spanischen geschrieben werden. Bei meiner Tätigkeit, Dokumente für die Firma zu übersetzen, muss ich auf der Braillezeile kontrollieren, was ich übersetzt habe.

Ich singe in einer Band und in einem Chor. Das Auswendig Lernen von Songs geht mir, im wahrsten Sinne des Wortes, schneller von der Hand, wenn ich die Texte in Braille ausgedruckt vor mir habe, als sie nur übers Hören einzustudieren.

Viele Beispiele dieser Art lassen sich aufzählen und ich denke, es ist bei mir ähnlich wie bei einer sehenden Person, die auf einen Bildschirm, ein Display oder auf altbewährte Zettel nicht verzichten möchte.

 

Anne Kochanek


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