Die Bücherwelt begreifen - nicht nur mit den Augen!

Foto: Kalenderblatt mit als Relief fühlbarem Eifelturm und Kalendarium in Schwarzschrift und Braille wird mit den Fingern erfühlt

Mit kleinen Kindern sehen sich Eltern, Geschwister oder Freunde gerne Bilderbücher an. Auf spielerische Weise lernen die Kleinen dadurch die Welt kennen.

Was aber, wenn blinde Kinder die Welt erkunden möchten? Da das Sehen über die Augen nicht stattfindet, müssen die Finger her!

Als ich klein war, gab es die ersten Tast-Bilderbücher. Lebhaft kann ich mich an mein erstes Bilderbuch erinnern: "Die kleine Wolke Klementine". Unter jedem Tastbild befand sich der Text in Druck- und Blindenschrift. Auf diese Weise konnten meine Eltern mir die Bücher vorlesen zumindest so lange, bis ich selber lesen konnte. Damals waren die Bücher noch nicht farbig gestaltet wie heute, wodurch ein barrierefreier Zugang für alle, auch für Kinder mit geringem Sehvermögen, gewährleistet war. Aber es war ein Anfang. Es folgten Klassiker wie der "Struwelpeter" oder "Peter und der Wolf". Meine Mutter bastelte selbst ein "Fühlbuch", wie wir es nannte. Dazu verwendete sie verschiedene Materialien wie Wolle, Fell oder Federn.

Die Jahre vergingen und aus dem Kind wurde eine erwachsene Frau. Das Interesse an taktilen Büchern ist geblieben. Das Zentrum für Barrierefreies Lesen (DZB) in Leipzig stellt nicht nur hochwertige Kinderbücher, sondern auch Reise- oder Kunstführer her, genauso wie Atlanten mit taktilen und farbigen Karten. Alljährlich wird ein neuer Wandkalender produziert, der sowohl optisch als auch haptisch liebevoll gestaltet ist. Der diesjährige Wandkalender steht unter dem Motto: "am Korallenriff". Abbildungen eines Seesterns, einer grünen Meeresschildkröte oder eines Rotfeuerfisches können sowohl mit den Augen als auch mit den Fingern betrachtet werden. Jeder Monat enthält ein Bild, dem eine Beschreibung in Print und Braille beigefügt ist. Natürlich darf das Kalendarium nicht fehlen.

Wo wir gerade bei Fischen sind: Das Bilderbuch "Swimmy" des italienisch-amerikanischen Künstlers Leo Leonni (deutsche Übersetzung James Krüss) dürfte Kindern und Erwachsenen gleichermaßen bekannt sein.

Kurz zur Handlung: Der kleine schwarze Fisch Swimmy lebt zufrieden im weiten Ozean inmitten vieler roter Fische. Als sein Schwarm von einem größeren Fisch gefressen wird, zieht Swimmy hinaus ins große Meer, wo er alle möglichen Abenteuer erlebt und Meeresbewohnern wie einer Qualle oder einem Aal begegnet. Schließlich gründet er mit anderen roten Fischen einen neuen Schwarm. Um sich vor Gefahren wie großen Fischen zu schützen, bildet die Gruppe einen Riesenfisch und Swimmy übernimmt die Rolle des wachsamen Auges.

Dieses wertvolle Buch nutzte meine Tante, die Grundschullehrerin war, im Rahmen eines Projektes, um es mit ihren Schülern für alle Sinne zugänglich zu machen. Die Fische wurden mit rotem und schwarzem Moosgummi gebastelt, die Raubfische aus Schmiergelpapier. Der Aal erhielt eine glatte Lederhaut und die Qualle fertigten die Kinder aus "ploppigem" Plastikpapier mit Lufteinschlüssen an, sodass eine "glibberige Wirkung" beim Anschauen und Berühren hervorgerufen wurde. Die Schüler befestigten alles mit doppeltem Klebeband auf großen Blättern. Zu jedem Bild wurde der Text in Druck- und Brailleschrift auf das jeweilige Blatt geklebt.

Als das Bilderbuch am Ende des Projektes präsentiert wurde, fand es großen Anklang.

Ich hatte das Vergnügen, den "Swimmy" sowohl in einer anderen Schule als auch am Tag des Buches in einer Stadtbücherei vorzustellen. Kinder und Erwachsene erfreuten sich am Lesen und Betrachten mit allen Sinnen. Den Ausruf eines kleinen Jungen werde ich nicht vergessen, als seine Finger behutsam über die "wabbelige" Qualle strichen: "Die ist geil!".


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