Annes Blog

Ansprechpartnerin Anne Kochanek

Anne Kochanek ist Produktmanagerin bei uns und von Geburt an blind. Über Interessantes aus ihrem Arbeitsalltag schreibt sie jetzt hin und wieder in ihrem eigenen Blog.

bisher erschienen:


Übersetzen in jeglicher Hinsicht

Seit ca. 18 Jahren arbeite ich im Bereich Produktmanagement bei der Firma Papenmeier Rehatechnik. Aufgrund meines Germanistik/ Anglistikstudiums sowie meiner Begeisterung für unterschiedliche Fremdsprachen (z. B. Englisch, Französisch Spanisch) bin ich für das Übersetzen von Texten aller Art (Prospekte, Handbücher, Briefe etc.) qualifiziert.  Als blinde Kollegin ist es jedoch auch meine Aufgabe, Texte in Braille/Punktschrift zu übertragen.

Jede Übersetzung hat ihre Eigenheiten. So kann man beispielsweise bei einer Übersetzung vom Deutschen ins Englische nicht alles wort-wörtlich übernehmen. Hier darf man manchmal seine Kreatitivät walten lassen und nach passenden Ausdrücken suchen. Auf diese Weise habe ich vor einiger Zeit eine Werbung für hochwertige Braillepunkte übersetzt. Im Deutschen hieß die Überschrift: "fühlbar hochwertige Punkt-Qualität". Im Englischen kam dann dabei heraus: "high dot-quality at your finger tips".

Finger auf Punktschrift

Apropos Fingerspitzengefühl: Bei der Übersetzung von einem gedruckten Text in Brailleschrift ist oft nicht einfach eine eins-zu-eins-Übertragung möglich. Tabellen stellen sich in Braille häufig anders dar als in Print und lesen sich mit den Fingern anders als mit den Augen. Folglich ist es notwendig, beim Formatieren der Braille-Datei darauf zu achten, dass alles ordentlich untereinander steht und der Leser/ die Leserin die Tabelle buchstäblich gut erfassen kann, wenn er/sie das Dokument als Punktschrift-Druck in die Finger bekommt.

Was folgt daraus? Beim Übersetzen in jeglicher Hinsicht kann man sich kreativ ausleben und es kommt keine Langeweile auf. Keine Übersetzung gleicht der anderen. Immer sind es verschiedene Themen mit unterschiedlichen Texten.

Ich war damals noch nicht sehr lange bei Papenmeier, als ich eine Übersetzung für eine andere Abteilung bei uns im Haus vornehmen sollte. Das Thema hieß "Waltzpaltregelung". "Oh", dachte ich, "endlich mal was ganz Neues! Noch nie gehört. Was bedeutet das denn auf Deutsch?" Mehrere Erklärungen und Telefongespräche mit dem zuständigen Produktbereichsleiter folgten, bevor ich loslegen konnte. Im Englischen hieß das Ganze "Roll gap control" und bereicherte mich mit vielen Fachausdrücken und technischen Begriffen. - und das alles im Hochsommer bei schweißtreibenden Temperaturen.

Die Abteilung bei Papenmeier gibt es inzwischen nicht mehr, die Erinnerung an diese interessante Thematik bleibt bestehen.

Anne Kochanek


Lesen mit allen Sinnen

Bücher verbunden mit Kopfhörern

Schon immer bin ich eine Leseratte gewesen. Sehr früh erlernte ich die Braille- Blindenschrift und verschlang sämtliche Bücher, die die Punktschriftbüchereien im Bereich Kinder- und später Jugendliteratur zu bieten hatten.

Hörbücher gab es auch schon, allerdings auf zahlreichen Audiokassetten.

Während meines Anglistik- / Germanistikstudiums waren sie mir, neben Braille-Büchern, eine große Hilfe.

Heute, in meiner Tätigkeit als Produktmanagerin und Kundenberaterin, empfehle ich den Kunden nicht nur ein passendes Daisyabspielgerät für Hörbücher, sondern auch die entsprechende Hörbücherei. Hörbibliotheken gibt es mehrere in Deutschland, beispielsweise die Norddeutsche Blindenhörbücherei in Hamburg (NBH), die Bayerische Blindenhörbücherei in München (BBH), die Westdeutsche Blindenhörbücherei in Münster (WBH) und die Deutsche Zentralbücherei für Blinde in Leipzig (DZB). Darüber hinaus findet man Hörbüchereien z.B. in Marburg, Bonn und Köln.

Möchte man Mitglied in einer Hörbücherei werden, schickt man eine Bescheinigung der Sehbehinderung/Lesebeeinträchtigung zur jeweiligen Bibliothek. Dies kann ein Attest des Arztes/Augenarztes sein oder eine Kopie des Schwerbehindertenausweises. Daraufhin wird man als Hörerin/Hörer registriert, erhält eine Hörernummer und darf sich kostenlos Literatur für die Ohren ausleihen. Die Ausleihe erfolgt entweder über den Katalog auf der Bibliothekswebseite, per Email oder telefonisch. Ist man nicht sicher, welcher Hörbuchtitel es genau sein soll, besteht die Möglichkeit Genres wie Krimis, Belletristik, Kurzgeschichten etc. als Interessengebiet anzugeben.

Ich lese sehr gerne Biografien, aber ebenso gelegentlich mal etwas richtig Spannendes. Auf diese Weise hat mir eine Mitarbeiterin der DZB in Leipzig manch gute Bücher empfohlen. Die Buchtipps habe ich wiederum an Kunden weitergegeben.

Hörbücher können von der entsprechenden Internetseite heruntergeladen und auf SD-Karte bzw. USB-Stick kopiert werden. Auf Wunsch bekommt man eine Daisy-CD mit dem kompletten Hörbuch zugeschickt. Nach Beendigung der Lektüre wird sie einfach an die jeweilige Bücherei zurückgesandt.

Zwar lese ich nach wie vor gerne mit den Fingern, aber auf Hörbücher möchte ich auf keinen Fall verzichten. So setze ich mir im Urlaub einen Kopfhörer auf, lege mich an den Strand und lasse mir, neben Meeresrauschen, ein rauschfreies Hörbuch in die Ohren sprechen. Dazu ein kühler Drink - was kann da noch schiefgehen?

 

Anne Kochanek


Auf den Punkt gebracht - meine Erfahrungen mit der Brailleschrift

Seit meiner Geburt kann ich nicht sehen, aber lesen konnte ich bereits vor meiner Grundschulzeit.  Genau wie manch sehendes Kind war ich wissbegierig und wollte lesen lernen. Mein Vater hatte die gute Idee, Legosteine mit kleinen Nägeln zu bestücken, welche die Braille- Blindenschriftbuchstaben darstellten.

Punktschrift "Ball"

Die Grundform der Brailleschrift besteht aus sechs Punkten. Daher wird sie auch als Punktschrift bezeichnet. Jedes Zeichen setzt sich aus unterschiedlichen Punktkombinationen zusammen. Dazu stelle man sich die Sechs auf einem Würfel vor. Auf der linken Seite sind drei Punkte untereinander, die in der Brailleschrift als Punkte 1,2,3 bezeichnet werden. Auf der rechten Seite liegen, ebenfalls untereinander, die Punkte 4,5,6. Ein kleines A besteht aus einem einzigen Punkt, dem Punkt 1. Möchte man ein kleines B schreiben, so sind dies die Punkte 1,2. Ein kleines L setzt sich aus den Punkten 1,2,3 zusammen. Jetzt kann man bereits das Wort "Ball" schreiben bzw. lesen. Natürlich können auch Großbuchstaben dargestellt werden sowie Zahlen, Satzzeichen, Mathematikschrift, Chemiesymbole oder Musiknotenschrift.

Im Übrigen wurde die Brailleschrift im 19. Jahrhundert von einem als Kind erblindeten Franzosen, Lehrer und Organisten, Louis Braille (1809-1852), erfunden, welchem sie ihren Namen verdankt. 1879 hielt die Blindenschrift in Deutschland Einzug.

Aus meinem Buchstabenspiel mit den Legosteinen wurden schnell erste Texte, dann Kinder- und Jugendbücher. Diese las ich besonders gern nachts unter der Bettdecke. Jedoch las ich nicht nur gern, ich verfasste schon im Grundschulalter Geschichten und Gedichte. Zum Schreiben benutzte ich eine Braille-Schreibmaschine. Mit den sechs Tasten und der Leertaste schrieb ich alles auf, was mir in meinem Kinderkopf herumspukte. Lesen konnte ich das Geschriebene sofort auf festem Braille-papier, was ich zuvor in die Maschine eingespannt hatte.

Die Leidenschaft des Lesens und des Schreibens ist bis heute geblieben, allerdings bediene ich mich nun elektronischer Hilfsmittel wie Computer, Smartphone und Braille-Notizgerät. So lässt sich das Smartphone mit einem kleinen Braille-Notizgerät koppeln. Alles, was ich schreibe, wie Emails, Whatsapps, Texte jeglicher Art etc. wird mit den Braille-Tasten des Notizgerätes geschrieben und im Smartphone abgespeichert. Auf der kleinen Braillezeile des Notizgerätes kann ich das Geschriebene lesen. Per USB oder Bluetooth verbindet man, genau wie beim Smartphone, ein Braille-Notizgerät mit PC oder Laptop.

Die sechs grundlegenden Braille-Punkte haben im sogenannten Computerbraille zwei Punkte hinzugewonnen, nämlich die Punkte 7 und 8. Punkt 7 wird zum Verwenden von Großbuchstaben, Punkt 8 zum Darstellen von Umlauten verwendet. Braucht man für das Ankündigen von Zahlen in 6-Punkt-Braille ein spezielles Zahlenzeichen, so ist dies in Computerbraille durch den zusätzlichen Punkt 7 nicht mehr notwendig.

Ebenfalls ist es mir möglich, auf einer regulären PC-Tastatur zu schreiben und das Geschriebene auf einer Braillezeile zu lesen. Die Braillezeile befindet sich vor der Tastatur des PCs und bildet ab, was ein sehender Anwender auf dem Bildschirm erhält.

Während es für mich als geburtsblinde Person völlig normal und leicht war, Braille lesen und schreiben zu lernen, fällt es spät erblindeten Menschen oft viel schwerer, vom Visuellen aufs Taktile umzusteigen. In meiner Arbeit als Kundenberaterin treffe ich auf viele Personen, die im Alter erblinden und Punktschrift nur mühsam oder gar nicht mehr lernen. Mit Hilfe von Sprachausgabe sowie digitaler Hörmedien können sie auf Literatur zugreifen. Dennoch würde ich niemandem abraten, die Brailleschrift zu lernen, zumindest einfache Grundlagen, sofern ein gewisser Tastsinn vorhanden ist. Auf diese Weise kann man zum Beispiel die Punktschrift auf Medikamentenpackungen lesen oder bei Bedarf selbst etwas beschriften. Ebenso erachte ich es als wichtig, selbst lesen zu können, ohne ausschließlich auf auditive Informationen angewiesen zu sein.

Relief-Braille-Kalender

Kinder lernen die Punktschrift meistens in einer Förderschule für Sehbehinderte oder, beim Besuch einer Regel-Grundschule, mit Hilfe von Betreuungs- bzw. Inklusionslehrern. Zur Förderung des Tastsinns gibt es bei verschiedenen Blindenbüchereien, wie beispielsweise der deutschen Zentralbücherei für Blinde zu Leipzig (DZB), sehr schön gestaltete Relief-Kinderbücher.

Für spät erblindete Erwachsene werden ebenfalls Kurse und entsprechendes Material zum Erlernen der Brailleschrift angeboten. Einige bekannte Blinden-Einrichtungen sind die DZB in Leipzig, die Blindenstudienanstalt (Blista) Marburg oder der Bayerische Blindenbund in München.

Ebenso gibt es Kurse und Computerprogramme für Sehende, die sich für Braille interessieren und sich mit der Punktschrift befassen möchten, um zum Beispiel blinde Menschen zu unterstützen, zu beraten oder zu schulen.

Ein Leben ohne Brailleschrift kann ich mir nicht vorstellen, sei es im beruflichen oder im privaten Bereich. Beim Erlernen von Fremdsprachen finde ich es wichtig zu wissen, wie Wörter im Englischen, Französischen oder Spanischen geschrieben werden. Bei meiner Tätigkeit, Dokumente für die Firma zu übersetzen, muss ich auf der Braillezeile kontrollieren, was ich übersetzt habe.

Ich singe in einer Band und in einem Chor. Das Auswendig Lernen von Songs geht mir, im wahrsten Sinne des Wortes, schneller von der Hand, wenn ich die Texte in Braille ausgedruckt vor mir habe, als sie nur übers Hören einzustudieren.

Viele Beispiele dieser Art lassen sich aufzählen und ich denke, es ist bei mir ähnlich wie bei einer sehenden Person, die auf einen Bildschirm, ein Display oder auf altbewährte Zettel nicht verzichten möchte.

 

Anne Kochanek


Die gute, alte Handschrift

Detailblick: Unterschrift setzen

Das mit der Handschrift ist so eine Sache. Sie ist schön und gut, und natürlich sind individuelle Handschriften etwas ganz Originelles.

Mit zunehmender Digitalisierung werden die handgeschriebenen Dokumente weniger. "Schade", mag so manche Person denken. Als von Geburt an blinder Mensch muss ich allerdings dazu sagen: "Toll!" und "Praktisch!"

Schon als Kind schrieb ich gerne Briefe: In Brailleschrift, später auf der Schreibmaschine und schließlich auf dem Computer. Dadurch konnten meine sehenden Verwandten/Freunde direkt lesen, was ich geschrieben hatte, ohne dass jemand meine Briefe zuvor von Braille in Schwarzschrift übersetzen musste. Von dieser Seite her wurde die Korrespondenz einfacher. Jedoch war das nicht der Fall, wenn ich Briefe in Handschrift erhielt. Druckschriftliche Post konnte ich später auf einen Scanner legen und sie mir so in Braille oder Sprache zugänglich machen. Mit Handschriften war das nicht möglich. Ich brauchte eine vorlesende Person, und das war mir manchmal nicht wirklich angenehm, besonders, wenn es Briefe waren, die eigentlich nur mich etwas angingen.

Als ich in den neunziger Jahren während meines Studiums die ersten Emails schreiben und empfangen konnte, war das eine enorme Erleichterung. Heute führe ich zahlreiche Email-Korrespondenzen, sei es mit Kunden, Verwandten oder Freunden. Als später zusätzlich SMS und WhatsApp ins Spiel kamen, wurden die Kommunikationsmöglichkeiten noch besser, vielseitiger und schneller. Am schönsten für mich war, dass ich nun alles selbst erledigen konnte/kann.

Beispielsweise schreibe ich meinen Freunden aus dem Urlaub eine WhatsApp oder schicke ihnen eine Sprachnachricht mit Wellenrauschen, Vogelgezwitscher … Ähnliches erhalte ich oft von meinen Freunden, wenn sie unterwegs sind. Natürlich gibt es weiterhin Liebhaber von klassischen Postkarten. Diese sind für mich nicht wirklich der Hit. Ich kann sie nicht selbst lesen und muss jemanden bitten, sie für mich zu schreiben. Als Schülerin diktierte ich meinen Eltern reihenweise Karten, die ich aus dem Urlaub an meine Freunde schreiben wollte, so, wie es jeder andere auch tat. Ähnlich verhielt es sich mit Weihnachts- Oster- oder Geburtstagskarten. Heute kann ich Ecards verschicken, lustige WhatsApp-Nachrichten schreiben oder sprechen und sogar jemandem zum Geburtstag ein gesungenes oder auf dem Saxophon gespieltes Ständchen schicken.

Ich unternahm auch den Versuch, ein bisschen Handschrift zu erlernen, jedoch fiel mir dies sehr schwer. Druckbuchstaben kann ich, wenn sie taktil dargestellt sind, wie auf Tafeln, Grabsteinen etc. lesen und ebenso schreiben. Schreibschrift jedoch bereitet mir Mühe. So übte ich als Schülerin intensiv an meiner Unterschrift. Meinen Vornamen "Anne" lernte ich schnell. Mit meinem Mädchennamen "Köchling" war es schwieriger. Manchmal gelang es mir, den Nachnamen leserlich zu schreiben. Meistens bekam ich als Rückmeldung "Nee, kann man nicht lesen". Wütend knallte ich dann den Stift auf den Tisch.

Meine Tante, die Grundschullehrerin war, verfiel auf eine gute Idee. Sie erklärte meinen Eltern: "Warum so kompliziert? Anne muss eine für sie originelle Unterschrift leisten. Da geht es nicht um Schönheit oder Lesbarkeit, sondern einfach um ihre individuelle Unterschrift. Wir vereinfachen das Ganze." Gesagt, getan. Sie zeigte mir eine wesentlich unkompliziertere Methode zu unterschreiben.

Als ich heiratete, änderte sich mein Nachname von "Köchling" in "Kochanek". Auch hier hatten meine Tante und ich eine einfache Form des Unterschreibens geübt. Auf dem Standesamt musste ich zuerst mit meinem Mädchennamen, also "Köchling", anschließend mit meinem neuen Nachnamen "Kochanek" unterschreiben. Als alles schon erledigt war, fiel mir ein, dass ich die "ö"-Pünktchen auf dem "Ö" von "Köchling" vergessen hatte, was ich sofort artikulierte. "Die muss ich aber noch einmal setzen, bevor ich sie endgültig abgebe!" rief ich und alle lachten.

Nach wie vor brauche ich Hilfe, wenn es darum geht, Formulare auszufüllen, so ich es nicht selbst am Computer erledigen kann. Ebenfalls brauche ich jemanden, der mir zeigt, wo ich ein Dokument unterschreiben muss und dazu meinen Finger an die richtige Stelle legt.

Insgesamt ist die heutige Technik jedoch für mich ein Segen, da sie mir einen weitestgehend selbstständigen Schriftverkehr/Kommunikationsaustausch ermöglicht.


Wie frei ist barrierefrei?

Bücher neben Laptop

In einem früheren Artikel meines Blogs habe ich über die Braille- Blindenschrift berichtet, welche für mich als nicht-sehende Person, eine extrem wichtige Rolle spielt.

Nachdem der blinde Franzose Louis Braille im 19. Jahrhundert die nach ihm benannte Blindenschrift erfunden hatte, wurde die Zugänglichkeit von Dokumenten für blinde Menschen wesentlich erhöht. Immer noch aber gab es zahlreiche Barrieren. So mussten Dokumente quasi von Hand in Brailleschrift übertragen werden, mittels einer Schreibtafel zu Anfang, später mit Hilfe von Punktschriftmaschinen.

Während meiner Schulzeit ab der 5. Klasse auf einem Regelgymnasium war vieles in Bezug auf Unterrichtsmaterialien nicht einfach. Es gab Lehrbücher in Braille, jedoch längst nicht alle. Das Mathematikbuch beispielsweise gab es nur bis zur 9. Klasse in Punktschrift. In der zehnten Klasse hatte ich buchstäblich keins. Jemand musste mir die Aufgaben diktieren oder sie mir in Brailleschrift aufschreiben. Das war zuweilen sehr mühsam, gerade, wenn die Aufgaben lang und komplex waren.

Ab der 11. Klasse wurde es dank eines Scanners etwas einfacher. Mit Hilfe meines damaligen Freundes (jetzigen Ehemannes ;-)) konnte das Mathebuch eingescannt und für mich in Brailleschrift ausgedruckt werden, denn ein Punktschriftdrucker kam hinzu. Dadurch wurde es ebenfalls in anderen Fächern sowie im Privatbereich leichter. Bekam ich einen Brief in Druckschrift, konnte ich ihn einscannen und mit moderner Hilfsmitteltechnik (Laptop mit Sprachausgabe, Braillezeile / Brailledrucker) selbst lesen. Auch Bücher, die es nicht in Braille gab, wurden mit dem Scanner umgesetzt und dadurch für mich zugänglich.

Später sorgten Emails, SMS und WhatsApps für weitere Erleichterung. Für viele Dokumente brauche ich heute noch nicht mal einen Scanner. Eine iPhone-App ermöglicht es mir, den Text zu fotografieren und ihn mir mit VoiceOver, der Sprachausgabe im iPhone, vorlesen zu lassen.

Leider sind bei weitem nicht alle Dokumente barrierefrei, obwohl dafür plädiert und geworben wird.

Neulich erhielt ich eine Geburtstagseinladung als Anhang einer Mail. Die Einladung war eine eingescannte Postkarte, auf der Ort und Zeit der Feier standen, sowie einige Worte zum runden Geburtstag des Einladenden. Diese Informationen erhielt ich, nachdem man sie mir vorgelesen hatte.

Eingescannte Bilder mit Text stellen ein Problem dar. Zwar gibt es eine sogenannte OCR-Software, mit der sich solche Texte besser in Sprache/Braille umwandeln lassen, jedoch tauchen hier häufig Fehler bei der Texterkennung auf.

Gut aufbereitete PDF-Dateien, vor allem jedoch Word- oder Txt-Dokumente, kann ich mir problemlos zugänglich machen. Ein Appell an alle, die Dokumente erstellen, wäre, bitte darauf zu achten, dass sie barrierefrei erstellt werden. Bei Fragen/Unsicherheiten, nach dem Motto: "Wie mache ich ein Dokument barrierefrei? Was ist zu berücksichtigen?" oder: "Wie ist eine Internetseite am besten auch für Menschen mit Handicap lesbar?" kann man sich gerne bei der Firma Papenmeier melden, da hier Barrierefreiheitsberatung durchgeführt wird.

Im Lesen von diversen Dokumenten bin ich "schmerzfrei", will sagen: Ich musste, vor allem während meiner Zeit als Germanistik- / Anglistik-Studentin zahlreiche Taschenbücher lesen, deren eingescanntes Resultat oft nicht wirklich erbaulich war. Dennoch habe ich das Studium geschafft! In der heutigen Zeit mit moderner Technik finde ich, wäre es mit ein bisschen Mitdenken durchaus möglich, vieles zugänglich zu machen, wenn man ein wenig drauf achtet. Befinden sich z.B. auf einer Internetseite Grafiken/Bilder, können diese mit wenigen Sätzen/einer Bildüberschrift versehen werden. Gleiches gilt für Handouts und Prospekte.

Vergleiche ich die Situation barrierefreier Dokumente wie sie, dem technischen Fortschritt sei Dank, heute ist, mit der Situation meiner Schulzeit, sind Welten dazwischen.
Ein Buch war früher als Braille bzw. Hörbuch verfügbar oder oft eben nicht. Es musste mir vorgelesen und auf Kassette gesprochen werden. Später in der Oberstufe und im Studium waren Scanner und Brailledrucker ein enormer Fortschritt. Möchte ich heute ein Buch lesen, gerne mal in einer anderen Sprache wie Englisch, Französisch oder Spanisch, lade ich mir das entsprechende Ebook herunter und lese es mit Hilfe meines iPhones/iPads oder Laptops in Verbindung mit meiner mobilen Braillezeile. Wahlweise kann ich das meist verfügbare Hörbuch genießen. Manchmal denke ich: "Hätte ich doch seinerzeit schon diese Technik gehabt." Andererseits ist es spannend, die Entwicklung mitzuverfolgen, welche sich in all den Jahren vollzogen hat, und die sich hoffentlich immer barrierefreier weiterentwickelt.


Hilf mir es selbst zu tun

italienische Gedenkbriefmarke Maria Montessori

Maria Montessori (1870-1952), die berühmte Pädagogin und Gründerin der nach ihr benannten Montessori-Schulen, tat einst diesen weisen Ausspruch.

Was aber, wenn man in bestimmten Bereichen aufgrund einer Beeinträchtigung wie beispielsweise einer Sehbehinderung, gewisse Dinge nicht allein tun kann?

Nehmen wir als tägliches Beispiel den Computer. Jeder hat mittlerweile einen in Besitz, sei es in Form eines Desk- oder Laptops. Zudem gehören Smartphones und Tablets zum täglichen Gebrauch. Alle diese Geräte bedient ein sehender Mensch über einen Bildschirm bzw. Touchscreen. Eine stark sehbehinderte oder, wie in meinem Fall blinde Person bedient sich eines sogenannten Screenreaders. Eine Sprachausgabe liest mir die Informationen auf dem Monitor oder des Touchscreens vor. Mit bestimmten Befehlen und Gesten ist es mir möglich, einen PC oder ein Smartphone/Tablet zu steuern und den Informationen der Sprachausgabe zu folgen.

Habe ich per USB oder Bluetooth eine Braillezeile an meinen PC/Laptop, mein Smartphone oder Tablet angeschlossen, so kann ich mir die Informationen auch in Punktschrift anzeigen lassen. Dadurch kann ich gut nachvollziehen, wie bestimmte Wörter geschrieben werden, was z.B. für Fremdsprachen sehr vorteilhaft ist.

Jedoch sind Hilfsmittel für mich nicht nur im IT-Bereich entscheidend.

Nehmen wir an, ich stehe in der Küche und möchte etwas abwiegen. Eine "normale" Küchenwaage besitzt eine Anzeige, auf der ein sehender Mensch genau feststellt, wieviel er gerade abwiegt. Dies teilt mir eine sympathische Stimme mit französischem Akzent mit: "swei-undert-siepsisch Gramm". Es gibt auch sprechende Waagen mit österreichischem Dialekt, wenn man das lieber möchte. Mittlerweile wiegt mein sehender Mann alles mit meiner sprechenden Waage ab, die keine optische Anzeige besitzt.

Mit Hilfe eines sprechenden Thermometers lasse ich mir die Innen- und Außentemperatur ansagen. Den sprechenden Wecker hat inzwischen mein iPhone ersetzt.

Icon Greta App

Viele Apps dienen mir täglich als Hilfsmittel. Bin ich im Kino, nehme ich "Greta"(für Iphone/ für Android) mit. Dank dieser App erhalte ich zu einem Film die entsprechende Bildbeschreibung (Audiodeskription), welche über Kopfhörer in meine Ohren kommt. So kann ich dem Film problemlos folgen, ohne dass ich auf die zugeflüsterte Beschreibung anderer Kinobesucher angewiesen bin. Für gehörlose Menschen gibt es über diese App die Möglichkeit, Untertitel angezeigt zu bekommen.

Icon Seeing AI App

Eine weitere hilfreiche App für Blinde ist "Seeing AI". Die Kamera im Smartphone halte ich über ein gedrucktes Dokument und kann mir dessen Inhalt vorlesen lassen. Schickt mir jemand per Whatsapp ein Foto, erkennt "Seeing AI", was sich auf dem Foto befindet und liefert mir die Informationen per Sprache.

Auch die gute "Alexa" von Amazon bewährt sich in meinem Alltag immer mehr. Wenn ich beim Fitnesstraining auf dem Crosstrainer Musik abspielen möchte, muss ich nicht länger am Smartphone herumsuchen, bis ich passende Musik gefunden habe. Ich sage einfach: "Alexa, spiele Hits der 80iger" und schon geht's los.

Der heutigen Technik ist es zu verdanken, dass ich in vielen Bereichen, sei es im Arbeits- oder Privatleben Hilfe bekomme, die ich früher auf andere, umständlichere Weise erhielt, meistens durch eine "Hilfs-Person".

Liebe, hilfreiche Menschen sind keinesfalls durch Technik zu ersetzen und es gibt immer wieder Situationen, in denen ich auf Hilfe anderer Personen angewiesen bin, was für Sehende aber ebenfalls zutrifft.

Hilfsmittel bieten mir jedoch ein großes Stück Unabhängigkeit.

 

Anne Kochanek


Hanna Schott, Volker Konrad: „Klimahelden - von Goldsammlerinnen und Meeresputzern“

Abbildung des Buches in den barrierefreien Formaten

Im Rahmen einer goldenen Buchpatenschaft haben wir von Papenmeier zusammen mit dem Deutschen Zentrum für barrierefreies Lesen - dzb lesen das Buch "Klimahelden - Von Goldsammlerinnen und Meeresputzern" in den Formaten Großdruck, DAISY, Braille Normalschrift und Braille Kurzschrift, sodass auch blinde und sehbehinderte Kinder die Geschichten zum Umweltschutz des Buches lesen können. Auch wenn es sich hier um ein Kinderbuch handelt, habe ich es doch sehr gerne in Braille gelesen. Hier nun mein Rezession des Buches.

Hanna Schott, geb. 1959 in Augsburg, befasst sich in ihrem Kinderbuch „Klimahelden – Von Goldsammlerinnen und Meeresputzern“ mit einem aktuellen und wichtigen Thema. Ständig ist in den Medien von Umweltverschmutzung, Klimaerwärmung, Plastikmüll und anderen Naturkatastrophen die Rede. All diese schrecklichen Meldungen können Angst und Mutlosigkeit hervorrufen. Hanna Schotts Buch ist eine Ermutigung und zugleich ein Appell, sich mit scheinbar kleinen Dingen, die große Wirkung haben, für unsere Umwelt einzusetzen.

Zu Beginn des Buches wird in der „Reise der Quietsche-Enten“ anschaulich und verständlich beschrieben, was Plastikmüll bzw. Mikroplastik im Meer bedeutet und welche verheerenden Folgen daraus entstehen, Fische und andere Meeresbewohner verenden. Der Fisch wird wiederum von den Menschen konsumiert.  

Es schließt sich eine bewegende Geschichte an. Die auf Bali lebenden Schwestern Melati und Isabel, befreien die Strände der Inseln regelmäßig von Müll, das sogenannte „Beach Clean Up“. An der jährlich stattfindenden „Putzaktion“ beteiligen sich immer mehr Menschen aus über 150 Ländern. Auf diese Weise wird der „Beach Clean Up“ zum „Clean Up Day“. Melati und Isabel gelingt es sogar, den Gouverneur von Bali zu überzeugen, Plastiktüten aus dem Verkehr zu ziehen und stattdessen Stoffbeutel oder Papiertüten zu verwenden – mit Erfolg! Die Aktion stößt auf weltweites Interesse, nicht zuletzt durch internationale Kongresse, auf denen die Mädchen sich mit anderen „Klimaschützern“ verbinden, wie ein Interview am Ende des Kapitels zeigt.   

Angereichert ist „Klimahelden“ mit wissenswerten Fakten, z.B. wie viele Tonnen Müll sich im Meer und am Strand befinden. Ergänzt wird das Buch durch zahlreiche Tipps, wie man täglich mit einfachen Mitteln seine Umwelt vor weiterem Müll bewahren kann.

In einer weiteren Geschichte geht es um die norwegischen Kinder Oskar und Matilde. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, das Essen zu retten. Am Beispiel von Milchtüten zeigen Sie dem Leser auf, dass es sich beim aufgedruckten Haltbarkeitsdatum nicht automatisch um das Wegwerfdatum der Milch handelt und man sie daher länger trinken kann. Die Geschwister betätigen sich als Lebensmitteltester. Sie gründen eine Kampagne, die über das Thema aufklärt, um das Wegwerfen von Lebensmitteln einzudämmen. Sie erreichen, dass auf sämtlichen Milchtüten nun ein anderes Haltbarkeitsdatum steht.

Die Autorin empfiehlt Kindern gleichermaßen wie Erwachsenen, sparsamer und überlegter einzukaufen, darauf zu achten, wo Lebensmittel herkommen und ob man sie wirklich benötigt. Besonders empfiehlt sie regionale sowie saisonale Produkte.

In einem weiteren Kapitel lernt der Leser Liam und die Fahrradpolizei kennen. Der Junge aus Hamburg nimmt an einer monatlichen Fahrraddemo teil, um für Fahrrad- und klimafreundliche Städte zu werben. Auch ein Polizist kommt zu Wort, der selbst vom Auto aufs Fahrrad umgestiegen ist und so mit gutem Beispiel vorrangeht.

Gut verständlich erklärt Hanna Schott Begriffe wie Treibhauseffekt,  Wetter, Klima, was Erderwärmung bedeutet, und wo man CO2 einsparen kann. Dabei ist ihr Ton nicht ermahnend, sondern als Aufforderung zu verstehen. Wichtige Begriffe sind stets eingerahmt.

Mehr Geschichten folgen:

Felix engagiert sich für das Pflanzen von 1.000 Milliarden Bäumen. Er gründet die Organisation „Plant for the Planet“ (pflanzen für den Planeten), welche sich für Klimagerechtigkeit einsetzt.  

In der darauffolgenden Geschichte wird der afrikanische Junge David vorgestellt. Jeden Tag gräbt er in einer Mine nach Gold. Parallel dazu lernt der Leser den deutschen Schüler Jakob kennen. Dieser erfährt, dass in jedem Handy Gold verarbeitet ist. Seine Schule startet eine Sammelaktion für alte Handys, die noch gebraucht werden können oder zumindest deren Wertstoffe. Der Erlös dieser Aktion geht an Familien in Afrika.

Ein Bericht über eine Gesamtschule im Saarland folgt, in der die Schüler zu Klimahelden werden. Sie lernen beispielsweise, einen eigenen Acker zu bewirtschaften, sich um Pflanzen und Tiere zu kümmern und somit Eigenverantwortung zu übernehmen.

Gegen Ende des Buches greift Hanna Schott das Thema Plastikmüll erneut auf mit zusätzlichen Ideen, dessen Ausbreitung einzudämmen. In einer kleinen Beispielgeschichte wird erklärt, wie Plastikmüll „eingefangen“ werden kann. Ebenso kommt die Autorin wieder auf dem Klimawandel zu sprechen, und dass dringend etwas geschehen muss, um ihn zu bremsen.  

Fazit: Das Buch soll nicht nur Kinder, sondern alle Menschen zum Handeln und zu neuen Ideen ermutigen. Die kleinen Geschichten sind eine große Auflockerung des nicht einfachen Themas. Ratschläge, gut verständliche Begriffserklärungen sowie Verweise auf Internetseiten mit weiteren Informationen runden Hanna Schotts „Klimahelden“ ab.

Weitere Informationen

Habe ich Ihr Interesse geweckt? Sehr gut!

In Schwarzschrift ist das Buch im Handel für 12,90€ erhältlich.

Die barrierefreien Versionen sind zur Ausleihe oder zum Kauf sind bei der dzb-lesen unter den folgenden Kürzeln erhältlich:

Kurzschrift, 2 Bände, 24,00 €, BNV 10339, BNA 19311
Vollschrift, 2 Bände, 12,00 €, BNV 10340, BNA 19282
Großdruck, 1 Broschur, 8,50 €, BNV 10347
1 CD DAISY (3:03 h) H049746

 

Anne Kochanek

 


Home Sweet Home

Text "HomeOffice"+ Foto tippender Hände auf einer Tastatur

Meine Erfahrungen als blinde Papenmeier-Kollegin im Homeoffice

Plötzlich ist es da und treibt im Frühling 2020 mit in die Höhe schnellenden Zahlen sein Unwesen - das Covid19-Virus, schlicht als "Corona" bezeichnet. Menschen stecken sich an und müssen in Quarantäne. Was folgt daraus für zahlreiche Firmen, so auch für etliche Mitarbeiter des Fachbereiches Papenmeier RehaTechnik? Arbeiten im trauten Heim, dem Homeoffice.

Für mich als blinde Produktmanagerin bedeutet das zunächst: Was brauche ich, um adäquat zu Hause arbeiten zu können? Genau wie jeder Sehende - einen Laptop. Dieser muss mit der nötigen Hilfsmittelsoftware wie dem Screenreader JAWS ausgestattet werden. Dazu kommt das Programm BrxCOM, damit das an den Laptop angeschlossene Braille-Notizgerät funktioniert. Standard-Office-Anwendungen wie Outlook, Word oder Excel gehören zur Standardausstattung.

Dann ist er da, der erste Tag im Homeoffice. Den Schreibtischstuhl ersetzt der Sessel im Wohnzimmer. Zwei Hocker vor dem Sessel sowie ein Stuhl daneben bilden den Schreibtisch. Auf einem Hocker thront der Laptop, auf dem anderen das daran angeschlossene Braillenotizgerät. Auf dem Stuhl liegt das Telefon nebst Headset, sowie iPhone und Diktiergerät. Der Braille-Notetaker wandert vom Hocker auf meine Knie, meine Füße auf dem Hocker vor dem Sessel.

Wie gewohnt starte ich Laptop und Braillezeile. Ich öffne Outlook, um meine E-Mails zu checken und kann mir gleich eine Tasse Kaffee holen. Das Herunterladen der Emails dauert um einiges länger als am Arbeitsplatz in der Firma. Das Bearbeiten der Mails sowie verschiedener Dokumente erweist sich anfangs als ungewohnt, weil ich nun anstelle eines Braillledisplays mit 80 Zeichen pro Zeile ein Brailledisplay mit 40 Zeichen pro Zeile nutze. Dabei wackelt das Notizgerät beim Schreiben ein wenig auf den Knien hin- und her. Manche Tasten des Notetakers befinden sich an anderer Position als beim Desktop-PC im Büro, beispielsweise die Windows- oder die Alt-Taste.

Das Telefon klingelt. Normalerweise wird mir im Büro auf der Braillezeile die Nummer des Anrufenden angezeigt da der Rechner mit der Telefonanlage verbunden ist. Nun klingelt es einfach. Ich melde mich also brav mit "Papenmeier Rehatechnik, Kochanek, guten Morgen." "Auch Firma Papenmeier, guten Morgen, Anne", meldet sich mein Kollege am anderen Ende. "Weißt du nicht, wer dran ist?" "Jetzt ja", entgegne ich grinsend. Er stellt einen Kunden zu mir durch, der Fragen zu einem unserer Produkte hat. Ich mache mir Notizen und plötzlich ist das Gespräch weg. Ich habe alles vom Kunden, bloß keine Telefonnummer. Diese hätte ich im Büro auf dem Display meiner Braillezeile gehabt. Also nochmal den Kollegen anrufen. "Hast du die Nummer von Herrn Schmitz?" Von dieser Sorte Namen gibt es zum Glück nur ganz wenige . Nein, hat der Kollege auch nicht. Was tun? Warten, bis der Kunde kurze Zeit später erneut anruft. Sofort notiere ich mir die Telefonnummer und mache dies fortan direkt, verbunden mit dem Sprüchlein: "Geben Sie mir bitte Ihre Telefonnummer? Ich bin im Homeoffice und sehe sie deshalb nicht auf dem Display." Wenn der Kunde erfährt, dass ich blind bin, kommt: "Ja, aber wie sehen sie denn die Nummer überhaupt?" Doch diese Frage ist mir vorher schon oft gestellt worden.

Später ist es technisch möglich, von zu Hause aus auf den Firmenrechner zuzugreifen. Somit kann ich benötigte Dokumente schneller einsehen oder herunterladen.
Eines Tages ist mitten in meiner Arbeit die Braillezeile ohne jede Funktion. Ich ziehe das Kabel aus der Buchse, stecke es wieder ein. Gleiches Ergebnis. Das Telefon klingelt. Ein Kollege ist gerade in meinem Büro und führt die 80iger Braillezeile vor. Ich erzähle ihm mein Problem. "Alles nochmal starten", rät er. Dann hab‘ ich des Rätsels Lösung. Ich melde mich vom Firmenrechner ab und schon ist die Braillezeile wieder funktionsfähig. Da der Kollege meine Firmenbraillezeile vorgeführt hat, ist die "Remote"-Braillezeile lahmgelegt. Ich gebe dem Kollegen Bescheid und logge mich wieder ins Firmennetz ein. Die Braillezeile läuft ohne Probleme.

Mein Mann, der ebenfalls im Homeoffice arbeitet, hat das Zimmer nebenan zum Arbeitsplatz umfunktioniert. So entspinnt sich zwischendrin von Tür zu Tür folgender Dialog:

"Wann wollen wir Mittag essen?"
"So gegen eins".
"Brot oder was warmes?"
"Mir egal."
"Du, besser schnell ein Brot. Hab gleich eine Telefonkonferenz."
"OK, heute Abend Spaghetti. Hab den nächsten Kunden dran."

Ganz gleich, ob kaltes oder warmes Essen: In der Mittagspause kann man sich bei schönem Wetter auf die heimische Terrasse setzen. Anfahrts- und Rückfahrtswege entfallen, sodass man morgens nach dem Frühstück direkt den Rechner hochfahren und loslegen kann. Der Feierabend wird quasi sofort eingeläutet, ohne Rückfahrt. Durch flexible Arbeitszeiten im Homeoffice kommt es gelegentlich vor, dass man abends mal ein Stündchen dranhängt, dafür zwischendurch für eine kurze Pause an die frische Luft geht.

Was im Homeoffice fehlt, ist der "Livetalk" mit Kollegen oder Kunden, die zur Vorführung ins Büro kommen. Vorführtermine müssen nun genau am Telefon abgesprochen werden und die Vorführung erfolgt, wenn der Kunde es wünscht, unter entsprechenden Corona-Schutzmaßnahmen.

Wenn möglich, werden Schulungen ebenfalls telefonisch durchgeführt. Hat der Kunde zum Beispiel ein Vorlesegerät erhalten und es wurde von jemandem aus der Familie angeschlossen, gebe ich dem Kunden am Telefon die nötige Hilfestellung.

Von Kollegen habe ich mehrfach gehört, dass sie sich durch die Arbeit im Homeoffice besser konzentrieren können und nicht ständig abgelenkt werden, wie es im Büro häufig der Fall ist. Zahlreiche Außentermine werden durch Videokonferenzen ersetzt, was sich als äußerst praktisch erweist. Wege für die An- und Rückfahrt entfallen, die einen sonst eine hohen Zeitaufwand bedeuten.

Fazit: Insgesamt komme ich gut im Homeoffice zurecht. An einiges musste ich mich gewöhnen, wie beispielsweise an den etwas anderen Arbeitsplatz oder daran, die Telefonnummer des Anrufers nicht zu sehen.

Da der Mensch generell kein Einzelgänger ist, bin ich froh, dass mein Partner ebenfalls im Homeoffice arbeitet. Aus meinem Bekannten- und Kundenkreis weiß ich, dass alleinstehende Menschen die sozialen Kontakte, welche für jeden wichtig sind, sehr vermissen.

Vorteilhaft ist in unserer Situation, dass wir ausreichend Platz im Haus haben. In einer kleinen Wohnung mit Kindern, die betreut werden müssen, während die Eltern im Homeoffice arbeiten, sieht die Lage ganz anders aus.

Hoffen wir, dass wir alle gesund bleiben und gut durch diese merkwürdige Zeit kommen.


Sehen - nur nicht mit den Augen!

Illustration der 5 menschlichen Sinne

Nehmen wir mal unsere berühmten fünf Sinne:

Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken.

Was aber, wenn das Sehen nicht funktioniert?

Für viele Menschen ist diese Vorstellung unheimlich, ja, quasi undenkbar.

Nun muss ich dazu sagen, dass ich seit meiner Geburt nicht sehen kann. Dadurch habe ich mich immer schon auf meine anderen Sinne konzentriert/spezialisiert.

"Aber wie machst du das denn alles, ohne zu gucken?" werde ich oft gefragt. Die Fragen sind vielfältig. Von: "Wie räumst du deine Spülmaschine ein" über "Woher weißt du, wann eine Bäckerei kommt" bis hin zu: "Wie kannst du ein Smartphone bedienen? Da bist du doch auf ein Display angewiesen."

Antwort auf Frage Nummer eins: Eine Spülmaschine räumen die meisten Hausfrauen/Hausmänner/Homeofficer nach Gefühl ein. Einige haben eine bestimmte Ordnung, andere nicht. Da ist es völlig gleich, ob man sehen kann oder blind ist. Meine Hände erkunden zuerst, wie viel Platz in welchem Fach ist und wo am besten die Gläser, Teller, Tassen … Platz finden. Dabei habe ich eine bestimmte Ordnung, halte mich aber nicht immer streng daran.

Antwort auf Frage Nummer 2: Eine Bäckerei erkennt man eindeutig am Geruch. Versuchen Sie mal, die Augen zu schließen, wenn Sie mit jemandem durch eine Einkaufspassage bummeln und sagen Sie dann Ihrem Begleiter, wann die Bäckerei kommt. Der einladende Duft von frisch Gebackenem ist nicht zu "überriechen". Genauso sieht es mit Blumenläden aus.

Vor einigen Jahren war ich zum ersten Mal bei meinem neuen Zahnarzt (auch dessen Praxis ist am Geruch eindeutig zu erkennen). Im Haus des Zahnarztes befindet sich, direkt neben dem Eingang, ein Blumenladen. Ich sagte zu meinem Mann: "Wenn wir den Zahnarzt hinter uns haben, nehmen wir zur Belohnung einen Blumenstrauß mit" Mein Mann stutzte kurz und antwortete: "Ja. Machen wir."

Frage Nummer 3: Ein Smartphone ist auch aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken. Jedes iPhone verfügt über die Sprache "VoiceOver", welche man direkt nach dem Kauf des Gerätes aktivieren kann. Dies muss beim ersten Mal eine sehende Person tun. Danach wird alles, was auf dem Display erscheint, gesprochen, z.B., welche Apps sich auf dem iPhone befinden. Aktiviere ich eine App durch einen Doppeltipp mit dem Finger, ertönt ein Signalton. Somit weiß ich, dass die App geöffnet wurde und ich mich mit entsprechenden Wischgesten durch deren Inhalt bewegen kann.

Möchte ich den Inhalt lieber mit den Fingern lesen, verbinde ich eine Braillezeile mit dem iPhone. Auf diese Weise werden die Augen durch Gehör und Finger ersetzt.

Genau wie meine sehenden Mitmenschen benutze ich die Ausdrücke "Sehen, gucken, anschauen“.

Ein Freund von mir hatte sich eine Gitarre gebaut und brachte sie mit. Ich fragte ihn sofort: "Kann ich die mal sehen? Ich bin ganz gespannt." Er gab sie mir in die Hände und beschrieb mir deren Aussehen. Auch das ist mir nämlich sehr wichtig, da ich im Kopf ganz eigene Farbvorstellungen habe.

Wenn mir jemand etwas zeigt, heißt es: "Anne, schau mal. Ich habe eine neue Frisur." (Diese freudige Feststellung werden wir nun wieder machen können).

Jetzt haben wir die Sinne Hören, Riechen und Tasten behandelt, nicht zuletzt als Ersatz für den Sehsinn. Fehlt noch das Schmecken.

Ich weiß nicht, ob dieser Sinn bei mir anders funktioniert als bei sehenden Menschen. Als kleines Kind mochte ich, wie viele Kleinkinder, keinen Spinat. Mein Mann erzählte mir, als er klein war und die Flasche mit dem grünen Zeug sah, fing er an zu protestieren. Bei mir wurde der Protest durch den ersten Löffel ausgelöst, den man mir in den Mund schob, folglich ein bisschen später als bei einem sehenden Kind. Jedoch ist die Wirkung letztlich die gleiche.

Zum Schluss möchte ich etwas beschreiben, das alle Sinne betrifft und so wohltuend ist: Waldbaden.

Sehr häufig gehen mein Mann und ich am frühen Abend in den Wald. Manchmal haben wir ein Aufnahmegerät und ein Richtmikrofon dabei. Je mehr man in den Wald kommt, desto intensiver werden die Sinne angeregt: Die Luft riecht würzig und frisch. Ein Bach plätschert und die Vögel überbieten sich in ihrer Sangeskunst. Ab und zu konzentriere ich mich darauf, bestimmte Vogelstimmen herauszuhören, wie Amseln, Singdrosseln oder Rotkehlchen. Am schönsten ist es, einfach die gesamte Atmosphäre in sich aufzunehmen und, im wahrsten Sinne des Wortes, im Wald zu baden. An einem besonders großen Baum bleiben wir stehen. Ich lasse ich die Hände über dessen rauen, bemoosten Stamm gleiten und nehme diese Wahrnehmung völlig in mich auf. Dabei fällt der Alltagsstress von mir ab und weicht wohliger Entspannung.

Der eigene Garten eignet sich allerdings ebenfalls sehr gut dazu. Einfach die Natur mit allen Sinnen einatmen und für eine gewisse Zeit das ständig arbeitende Gehirn ruhen lassen,  empfehle ich gerne weiter!


"Alexa, Siri und co."

Kurioses und Erheiterndes aus dem Alltag mit Sprachassistenten

Assistentgerät in der Mitte wird von zwei Männchen angesprochen

Es ist früh am Morgen. Eigentlich könnte ich nach dem Aufstehen ins Bad gehen, mich frisch machen und dann das Frühstück zubereiten. Stattdessen führt mich mein erster Gang in den Fitnessbereich unseres Kellers. Dort wartet der Crosstrainer auf sportliche Betätigung meinerseits. Aber noch jemand will meine Aufmerksamkeit oder ich die ihrige - Alexa, die Sprachassistentin von Amazon (seit einiger Zeit auch Meine). Zur Begrüßung sage ich: "Alexa, guten Morgen." Sie erwidert den Gruß und teilt mir etwas oft Wissenswertes mit, z.B. eine Erfindung vor vielen Jahren oder der Geburtstag einer berühmten Persönlichkeit. Danach sage ich: "Alexa, überrasch mich." Manchmal hat sie etwas Nettes in ihrem Überraschungspaket, zum Beispiel einen Yogakurs, den ich aber lieber auf den Abend verschiebe. So gebe ich ihr nun das nächste Kommando: "Alexa, spiele Hits der 80er Jahre." Oh, selige Jugendzeit! Alexa folgt sogleich meinem Wunsch: "Hits der 80er werden abgespielt." Zur Musik geht’s im flotten Laufschritt auf dem Crosstrainer los. Der Diskobeat kann ruhig noch ein bisschen mehr wummern und ich bitte Alexa: "Alexa, lauter." Gehorsam folgt sie meiner Anweisung.

Nach einiger Zeit rufe ich: "Alexa, stopp". Nichts geschieht. Ich wiederhole, wesentlich lauter und energischer: "Alexa, stopp". Das hört sie und die Musik wird angehalten. Ich steige vom Crosstrainer und sage: "Alexa, mach Sport für mich." Daraufhin kommt nur: "Entschuldigung. Das habe ich nicht verstanden." Ganz gleich, auf welche Weise ich ihr dieses Kommando erteile, sie versteht es nicht. Zum Schluss frage ich Alexa nach einer Kurzzusammenfassung der aktuellen Nachrichten, dem heutigen Wetterbericht und einem Witz.

Am Abend folgt ein bisschen Yoga, Entspannungsmusik und ein Hörbuch, das, sobald Alexa den Befehl: "Lies Patricia Highschmith" erhalten hat, von Audible, einem kommerziellen Hörbuchanbieter, abgespielt wird.

Auf meinem iPhone ist Siri, die Sprachassistentin von Apple, eine treue Helferin, wenngleich sie nicht immer alles so versteht, wie es gemeint ist.

Beispielsweise diktiere ich ihr eine WhatsApp an einen Bandkollegen. Mein Diktat lautet: "In welcher Tonart spielen wir das Stück? Nehmen wir A-Dur?" Wenige Minuten später schreibt der Kollege zurück: "Meinst du nicht, wir wollen lieber A-Dur statt Athur nehmen?" Er schickt eine Emoji mit einem grinsenden Gesicht hinterher. Die Emoji wird mir direkt angesagt. Obwohl ich eine deutliche Aussprache habe, entstehen immer wieder solche kleinen, niedlichen Pannen, wobei anzumerken ist, dass diese schon wesentlich weniger auftreten als am Anfang meiner iPhone/Siri-Connection.

Möchte ich jemanden anrufen, sage ich: "Siri, rufe Tina Meyer an." Die anzurufende Person befindet sich in meiner Kontaktliste. Siri gibt zur Antwort: "Welche Telefonnummer für Tina Meyer? Festnetz oder iPhone" Ich antworte: "iPhone". Siri erwidert: "Tina Meyer wird angerufen. IPhone" Das ist für mich eine große Hilfe, da ich nicht erst den Kontakt heraussuchen und "Anrufen" betätigen muss.

Auf einer längeren Autofahrt fragte mich Mein Mann, was wir denn jetzt zum Abendessen machen sollten, wenn wir nach Hause kämen. Umso eine späte Zeit hatte keiner von uns mehr Lust zu kochen. Da kam mir die Idee, bei unserer lokalen Pizzeria anzurufen und dort Essen zu bestellen. Die Telefonnummer befand sich allerdings nicht in meinen Kontakten auf dem iPhone. Ich versuchte es trotzdem. "Siri, ruf Pizzeria Amore in Schwerte an." Daraufhin Siri: "Die Telefonnummer der Pizzeria Amore in der Schillerstraße in Schwerte lautet 777896. Möchtest du dort anrufen?" "Ja", entgegnete ich und die Nummer wurde gewählt.

Sowohl Alexa als auch Siri kann ich bitten, mir etwas aus der Wikipedia vorzulesen, Begriffe zu erklären, wie zum Beispiel, sehr aktuell: "Was ist ein Lockdown?" Allerdings hat sie auf die Frage, wie lange der noch andauert, leider keine Antwort.

Sprachassistenten können im Alltag, zumindest aus meiner Perspektive, eine große Hilfe sein, gerade für Menschen mit Beeinträchtigungen. Man kann schnell und einfach an Informationen gelangen, die man sonst erst nachschlagen müsste. So kann Alexa dahingehend programmiert werden, dass sie die Heizung anstellt, oder das Licht und den Ofen einschaltet. Sie kann auch einen Begriff ins Englische oder Spanische übersetzen.

Neben Siri und Alexa existieren weitere Sprachassistenten wie Google oder Cortana.

Seit der aktuellen Version des Screen Readers JAWS sowie der Vergrößerungssoftware ZoomText gibt es hier ebenfalls einen Sprachassistenten, welcher auf einen bestimmten Sprachbefehl hin beispielsweise die Sprachausgabe lauter stellt, ein Programm öffnet oder Links auf einer Webseite anzeigt.

Am meisten nutze ich Siri und Alexa. Im Laufe der Jahre konnte ich eine stetige Weiterentwicklung feststellen, die sich in den nächsten Jahren und mit neuen Versionen fortsetzen wird. Jedoch ersetzt keiner dieser Sprachassistenten meinen Morgensport.


Die Bücherwelt begreifen - nicht nur mit den Augen!

Foto: Kalenderblatt mit als Relief fühlbarem Eifelturm und Kalendarium in Schwarzschrift und Braille wird mit den Fingern erfühlt

Mit kleinen Kindern sehen sich Eltern, Geschwister oder Freunde gerne Bilderbücher an. Auf spielerische Weise lernen die Kleinen dadurch die Welt kennen.

Was aber, wenn blinde Kinder die Welt erkunden möchten? Da das Sehen über die Augen nicht stattfindet, müssen die Finger her!

Als ich klein war, gab es die ersten Tast-Bilderbücher. Lebhaft kann ich mich an mein erstes Bilderbuch erinnern: "Die kleine Wolke Klementine". Unter jedem Tastbild befand sich der Text in Druck- und Blindenschrift. Auf diese Weise konnten meine Eltern mir die Bücher vorlesen zumindest so lange, bis ich selber lesen konnte. Damals waren die Bücher noch nicht farbig gestaltet wie heute, wodurch ein barrierefreier Zugang für alle, auch für Kinder mit geringem Sehvermögen, gewährleistet war. Aber es war ein Anfang. Es folgten Klassiker wie der "Struwelpeter" oder "Peter und der Wolf". Meine Mutter bastelte selbst ein "Fühlbuch", wie wir es nannte. Dazu verwendete sie verschiedene Materialien wie Wolle, Fell oder Federn.

Die Jahre vergingen und aus dem Kind wurde eine erwachsene Frau. Das Interesse an taktilen Büchern ist geblieben. Das Zentrum für Barrierefreies Lesen (DZB) in Leipzig stellt nicht nur hochwertige Kinderbücher, sondern auch Reise- oder Kunstführer her, genauso wie Atlanten mit taktilen und farbigen Karten. Alljährlich wird ein neuer Wandkalender produziert, der sowohl optisch als auch haptisch liebevoll gestaltet ist. Der diesjährige Wandkalender steht unter dem Motto: "am Korallenriff". Abbildungen eines Seesterns, einer grünen Meeresschildkröte oder eines Rotfeuerfisches können sowohl mit den Augen als auch mit den Fingern betrachtet werden. Jeder Monat enthält ein Bild, dem eine Beschreibung in Print und Braille beigefügt ist. Natürlich darf das Kalendarium nicht fehlen.

Wo wir gerade bei Fischen sind: Das Bilderbuch "Swimmy" des italienisch-amerikanischen Künstlers Leo Leonni (deutsche Übersetzung James Krüss) dürfte Kindern und Erwachsenen gleichermaßen bekannt sein.

Kurz zur Handlung: Der kleine schwarze Fisch Swimmy lebt zufrieden im weiten Ozean inmitten vieler roter Fische. Als sein Schwarm von einem größeren Fisch gefressen wird, zieht Swimmy hinaus ins große Meer, wo er alle möglichen Abenteuer erlebt und Meeresbewohnern wie einer Qualle oder einem Aal begegnet. Schließlich gründet er mit anderen roten Fischen einen neuen Schwarm. Um sich vor Gefahren wie großen Fischen zu schützen, bildet die Gruppe einen Riesenfisch und Swimmy übernimmt die Rolle des wachsamen Auges.

Dieses wertvolle Buch nutzte meine Tante, die Grundschullehrerin war, im Rahmen eines Projektes, um es mit ihren Schülern für alle Sinne zugänglich zu machen. Die Fische wurden mit rotem und schwarzem Moosgummi gebastelt, die Raubfische aus Schmiergelpapier. Der Aal erhielt eine glatte Lederhaut und die Qualle fertigten die Kinder aus "ploppigem" Plastikpapier mit Lufteinschlüssen an, sodass eine "glibberige Wirkung" beim Anschauen und Berühren hervorgerufen wurde. Die Schüler befestigten alles mit doppeltem Klebeband auf großen Blättern. Zu jedem Bild wurde der Text in Druck- und Brailleschrift auf das jeweilige Blatt geklebt.

Als das Bilderbuch am Ende des Projektes präsentiert wurde, fand es großen Anklang.

Ich hatte das Vergnügen, den "Swimmy" sowohl in einer anderen Schule als auch am Tag des Buches in einer Stadtbücherei vorzustellen. Kinder und Erwachsene erfreuten sich am Lesen und Betrachten mit allen Sinnen. Den Ausruf eines kleinen Jungen werde ich nicht vergessen, als seine Finger behutsam über die "wabbelige" Qualle strichen: "Die ist geil!".


Seeing AI - keine App wie jede andere

Pling. Eine WhatsApp erscheint auf meinem iPhone. Gespannt öffne ich den WhatsApp-Messenger. Die VoiceOver-Sprache liest mir vor: "Christiane Bäcker. Foto. Viele Grüße von Thea." Wie gerne nutze ich WhatsApp und wie oft habe ich mich über Fotos geärgert, die ich nicht sehen kann. Stets musste ich jemanden fragen, meinen Mann, einen Kollegen, eine Nachbarin, je nachdem, wer sich gerade in der Nähe befand. "Kannst du mal schauen, was auf dem Bild ist?" Erst dann erfuhr ich, was darauf zu sehen war - bis Seeing AI in Erscheinung trat. Die von Microsoft entwickelte App wird laufend verbessert. Mit ihrer Hilfe lassen sich Texte vorlesen, wenn man die Kamera des Smartphones über das Dokument hält. Ebenso können Produkte erkannt werden, sobald der Barcode auf einer Packung erkannt wird. Auch die Identifizierung von Objekten ist möglich, welche man mit der Kamera fotografieren kann.

Screenshot aus der App Seeing AI - Die App beschreit korrekt ein Foto " Wahrscheinlich ein Hund, der auf dem Boden liegt"

Und auf einmal weiß ich, wer Thea ist, ohne einen Sehenden um Erklärung zu bitten. Ich klicke auf das Foto und aktiviere "Teilen / mit Seeing AI erkennen". Es folgen Signaltöne, die mir anzeigen, dass das Bild verarbeitet wird. Dann liest VoiceOver: "Text: "Hallo, ich bin Thea und habe immer Hunger" Danach höre ich: "Szene: Ein Hund, der aus einem Napf frisst." Wische ich mit dem Finger nach rechts, kommt die Meldung" "Foto untersuchen". Aktiviere ich diesen Punkt, so kann ich mir Details auf dem Foto, soweit vorhanden, beschreiben lassen. Dazu bewege ich einen Finger kreisförmig über den Touchscreen. Möchte ich das Foto nicht näher erkunden, wische ich noch einmal nach rechts auf "schließen". Ich lande nun erneut in der WhatsApp mit dem Foto und schreibe der Freundin zurück: "Hallo Christiane, herzlichen Glückwunsch zum neuen Familienhund. Wie alt ist er denn?" Kurze Zeit später schreibt Christiane zurück: "Oh, sorry. Du kannst das Foto ja gar nicht sehen. Hat dein Mann es dir erklärt?" Ich schreibe zurück: "Nee. Mein neuer Freund. Näheres wird nicht verraten. Außerdem weiß ich immer noch nicht, wie alt Thea ist." Christianes Antwort dauert etwas länger. Schließlich schreibt sie: "Ach so. Das sind ja Neuigkeiten. Wie heißt dein Neuer denn? Thea ist 7 Monate alt." Ich texte: "Seeing AI" und füge ein Smiley an.

Für mich bedeutet Seeing AI wesentlich mehr als eine normale App, ist sie doch zum täglichen Helfer geworden, sei es beim Lesen von Post oder anderen Dokumenten, beim Identifizieren von Lebensmitteln oder beim Erkennen von Fotos. Im Laufe der Zeit hat sich die Erkennungsqualität deutlich verbessert. Außerdem macht Seeing AI Menschen jünger als sie tatsächlich sind.

Von meinen Eltern erhielt ich Anfang April per WhatsApp ein Foto, das meine Mutter im Garten zeigte. Text: "Bunte Ballons an einem Strauch." Szene: "Eine 64-jährige Frau mit Brille, die glücklich zu sein scheint und vor einem Strauch steht."

Woher soll Seeing AI wissen, dass es sich nicht um Ballons, sondern um bunt bemalte Ostereier handelt, die meine Mutter jedes Jahr kurz vor Ostern im Garten aufhängt? Schließlich hatte ich als Kind jedes Jahr zur Osterzeit gerne unsere Sträucher mit Eiern dekoriert. So antwortete ich: "Danke für die lieben Ostergrüße. Jetzt ist der Strauch mit bunten Ballons geschmückt - oder sind es etwa die alljährlichen Ostereier? Übrigens bist du, Mutti, nun um einige Jährchen jünger. 64 Jahre! Mach mal ein Foto von Papa". Auch hier folgte ein Smiley und "frohe Ostern."

Anmerkung: Die Seeing AI App steht sowohl für Apple- als auch für Android-Geräte kostenlos zur Verfügung.


Von gedankenlosen Mitmenschen und mitdenkenden Persönlichkeiten

Frau mit Blindenstock in einer Fußgängerzone, wobei nur die Beine und der Stock zu sehen sind

An einem Samstag zum Zahnarzt zu müssen, ist wahrlich kein guter Wochenendeinstieg. Aber wenn die Schmerzen nicht mehr auszuhalten sind, geht es nicht anders. So erging es mir vor einigen Wochen.

Endlich an der Reihe, wurde ich ins Behandlungszimmer geleitet. Der Zahnarzt kam und ich teilte ihm, neben meinen Schmerzen, kurz mit, dass ich blind bin, damit er Bescheid wusste. Der gute Mann, ohnehin mit einem kräftigen Organ ausgestattet, nahm dies zum Anlass, mit mir in extremer Lautstärke zu sprechen, so, als hätte ich ihm mitgeteilt, hochgradig schwerhörig zu sein. "Bitte Mund aufmachen, locker lassen, Kopf schön zu mir drehen!" schrie er er mich fast an. In meiner Not ließ ich alles über mich ergehen und folgte brav seinen Anweisungen, denn der Weisheitszahn musste raus und so geschah es letztlich. Während der Behandlung merkte der Arzt offensichtlich, dass ich auch reagierte, wenn er leiser bzw. normal mit mir sprach. Am Ende redete er mich sogar mit "Frau Kochanek" an. Erwidern konnte ich mit der Betäubung im Mund nicht viel, aber dieser Morgen blieb im Gedächtnis.

Nicht nur, dass manche Menschen, von denen ich zum Glück nicht allzu viele erlebt habe, meinen, sehr laut mit blinden Personen sprechen zu müssen, mehr noch. Man kann mit beeinträchtigten Menschen umgehen wie mit kleinen Kindern. Ebenso ist es nicht unüblich, gar nicht mit der Person selber, sondern mit der Begleitung zu reden. "Welche Größe hat sie denn?" bin ich häufiger in Geschäften gefragt worden. "Möchte sie die Schuhe mal anprobieren?" "Ja gern", erwidere ich dann betont, "Bitte geben Sie mir die Schuhe in die Hand oder stellen Sie sie vor mich hin. Welche Farbe haben sie denn?" Allmählich wird der Verkäuferin/dem Verkäufer klar, dass ich Schuhe suche, nicht mein Mann, meine Freundin oder jemand anders. Meine Tante dreht sich bewusst weg, wenn die Kommunikation mit ihr und nicht mit mir vonstattengeht.

Einmal ging ich in Düren, wo meine Eltern leben, mit meiner Mutter einkaufen. An der Kasse zahlte ich die Ware. Der Verkäufer meinte daraufhin zu meiner Mutter in unverkennbarem, rheinischem Dialekt: "Dat jeht ja schon schön. Kann se dat Jeld fühlen?" "Nee, dat kann isch rieschen, wie dat mal ein Kandidat bei "Wetten dass…" Jemacht hat." Platzte es aus mir heraus. Der Verkäufer sagte nichts mehr und wir verließen lachend den Laden.

Ebenfalls ist mir passiert, dass ich mit meinem weißen Stock unterwegs war und hörte, dass sich ein Stück von mir entfernt mehrere Personen unterhielten. Ich ging auf die Gruppe zu, weil ich in diese Richtung musste. Plötzlich Schweigen im Walde bzw. auf dem Bürgersteig. Die Leute hatten aufgehört zu reden und ich spürte genau, dass sie mich anglotzten. Ich verlangsamte meine Schritte, damit ich mit den Ohren herausfinden konnte, wo die Personen standen. Tatsächlich hörte ich eilige Schritte, die auseinanderliefen, um mir Platz zu machen. Ich war noch nicht weit von der Gruppe entfernt, da hörte ich sie wieder miteinander sprechen, erst tuschelnderweise, dann lauter. Ich überlegte, mich zu ihnen umzudrehen, ließ es dann aber bleiben. Manchmal fällt einem einfach nichts mehr dazu ein.

Aber - man stelle sich vor: Es geht anders! So war ich vor einiger Zeit mit einer Freundin shoppen. Wir betraten ein Bekleidungsgeschäft und meine Freundin begann mir zu beschreiben, welche Jacken angeboten wurden. Da kam die Verkäuferin auf uns zu und fragte mich, was ich suchen würde, welche Farbe ich bevorzugte, und ob ich die herausgesuchten Jacken einmal anprobieren wollte. Als ich die erste Jacke angezogen hatte, meinte die Verkäuferin ehrlich: "Oh nein, diese Jacke steht Ihnen nicht. Die Farbe trägt auf und die Ärmel sind zu lang." Meine Freundin und ich stimmten zu. Nach einer Weile fanden wir, in entspannter Atmosphäre, das passende Kleidungsstück.

Lebhaft kann ich mich an eine Begebenheit aus meiner Studienzeit in Stuttgart erinnern. Es war Winter und überall lag Schnee. Ich ging von der Wohnung zur S-Bahn und erst schien alles gut zu gehen. Doch auf einmal war für mich kein Weg mehr erkennbar. Ich versuchte, den Stock unter den Schnee zu schieben, um festen Boden auszumachen. Unterdessen schneite es wieder und ich stapfte ziellos umher. Plötzlich hörte ich eine Stimme neben mir. Ein Herr fragte freundlich, ob er mir helfen könnte und wenn ja, wie. Ich erklärte, dass ich zur S-Bahn müsste und fragte ihn, ob er mich dorthin begleiten würde. "Natürlich. Ich muss in die gleiche Richtung. Und wenn nicht, wäre das auch kein Problem." Ich hakte mich bei ihm ein und los ging es.

Abschließend ein anderes Beispiel für mitdenkende Menschen.

Vor ungefähr zehn Jahren verwirklichte ich mir einen langgehegten Traum: Ich wollte Saxophon lernen. Wo sucht man nach einem geeigneten Lehrer? Erst mal in der städtischen Musikschule. Ich schilderte meine Situation und sagte dem Musikschulleiter gleich, wie ich am besten lernen würde. (dazu mehr in einem späteren Artikel). Der damalige Leiter meinte, Tage später, es sei unmöglich, mich zu unterrichten. Man könnte mir ja keine Noten hinlegen. Bei einer anderen privaten Musikschule hatte ich ebenfalls kein Glück. Am Ende hieß es, der Versuch könnte gestartet werden, aber nur vormittags zu einer bestimmten Uhrzeit. Da ich berufstätig bin, fiel das ebenfalls aus. Ich gab nicht auf und forschte weiter. Schließlich stieß ich auf eine weitere, kleine private Musikschule. Ich schrieb eine E-Mail mit meiner Anfrage dorthin mit der Bitte, sich bei mir zu melden. Am nächsten Tag klingelte mein Handy. Die Chefin der Musikschule war am Telefon. Sie zeigte sich sehr aufgeschlossen und fragte, ob es für mich an einfachsten wäre, wenn sie zu mir nach Hause käme. Sie würde ein Leihinstrument mitbringen und die erste Stunde sei kostenlos. So geschah es, dass ich bald danach meinen Traum realisieren konnte und heute mit Begeisterung Saxophon spiele. Zu der Lehrerin habe ich immer noch Kontakt.

Anhand dieser Beispiele, von denen sich Weitere aufzählen lassen, möchte ich darlegen, dass es sich durchaus lohnt, ein bisschen mitzudenken und seinen Mitmenschen entgegenzukommen - ob mit oder ohne Handicap.


Der Braille-Kalender oder: ein nützlicher kleiner Helfer mit Eigenarten

Hände lesen in aufgeschlagenen Papenmeier Braillekalender

Alle Jahre wieder

Ist Kalenderzeit.

Kommt er zu den Kunden,

herrscht gar große Freud'.

Es ist ein alljährliches Ritual und dennoch erlebt man immer wieder Überraschungen - gemeint ist unser kleiner Braille-Kalender im Hosentaschenformat, den wir jedes Jahr kostenlos an unsere Kunden verschicken. Der Kalender beginnt mit herzlichen Begrüßungsworten und einer kleinen Einleitung. Die Monate schließen sich an. Unter jedem Monat befindet sich ein kleiner Werbetext, der auf ein Hilfsmittel, ein Angebot von Papenmeier oder auf eine Internetseite hinweist. Nach dem Kalendarium erhält man eine Liste von Feiertagen, gefolgt von den Ferienterminen jedes Bundeslandes.

Abgerundet wird der Kalender durch einen informativen Schlusstext und, sehr wichtig, mit Papenmeier-Kontaktdaten.

Alles in allem ein gelungenes, kleines Werk für den praktischen Einsatz zu jeder Zeit an jedem Ort.

Beim Erstellen des Taschenkalenders muss jedoch auf einiges geachtet werden.

Eine Braille-Seite darf maximal 15 Zeilen enthalten. Eine Zeile besteht wiederum aus höchstens 20 Braillezeichen. Hat man also einen kleinen Text, der unter dem Kalendarium des Monats steht, sollte dieser möglichst komprimiert werden, da er höchstens fünf Zeilen umfassen darf.

Trotz intensiven Bearbeitens und Korrekturlesens schlich sich in all den Jahren immer mal wieder ein Fehlerteufelchen ein. Einmal kam ein Kollege zu mir und meinte, er hätte nächstes Jahr keinen Geburtstag. Ich fragte verwundert nach dem Grund. Daraufhin erklärte er mir, dass der 28. Februar fehlen würde. Ich sah sofort nach und - richtig, der Tag stand nicht im Kalender.

Ein anderes Mal fehlten im Monat Juni die Sonntage. "Was tun?", fragten wir uns, zumal die Kunden ihre Kalender bereits erhalten hatten.

So gaben wir den Kunden ein Rätsel auf. Wer uns sagen konnte, in welchem Monat sich der Fehlerteufel eingenistet hatte und welcher Tag fehlte, erhielt einen weiteren kostenlosen Braillekalender. Das Telefon klingelte kurze Zeit danach regelmäßig.

Einmal war auf der Papenmeier-Internetseite zu lesen, dass wir kostenlose Braille-Kalender verschicken würden. Da "kostenlos" immer gut ankommt, erhielten wir anschließend mehr als 8000 Anfragen. Sportvereine, Kegelclubs, Tanzschulen, alles vorhanden. Den Menschen war nicht klar, dass es sich bei "Braille" um "Blindenschrift" handelt.

Wenden wir uns nun den Braille-Kalendern 2022 zu. Ein Anschreiben, ebenfalls in Braille, wird alljährlich den ausgedruckten Exemplaren beigelegt, in dem wir uns bei den Kunden für ihr Vertrauen bedanken und ihnen ein frohes Weihnachtsfest sowie ein gesundes neues Jahr wünschen, wie immer gefolgt von den Papenmeier-Kontaktdaten.

Nachdem die fertigen Kalender für 2022 gedruckt worden waren, verabschiedete sich die blinde Korrekturleserin (wer könnte hier wohl gemeint sein)? in den Urlaub. Während sie an Fuerteventuras warmer Küste weilte, wurden im kalten Deutschland Kalender und Anschreiben an die Kunden verschickt. Später gingen die ersten Anrufe bei Papenmeier ein. Der Braille-Kalender sei, wie immer, sehr gelungen und bislang wurde kein Fehler gefunden. Das Anschreiben jedoch sei, bis auf wenige Stellen, nicht lesbar. Wie sich herausstellte, war am Brailledrucker ein falscher Zeichensatz eingestellt, sodass der Text, bis auf die Telefonnummern am Schluss, kaum einen Sinn ergab. Zwar ist ein großer Teil der Kalender nebst Anschreiben bereits versendet worden, jedoch werden die noch ausstehenden Anschreiben vollständig zu lesen sein.

Und die Moral von der Geschicht,

Ein Fehlerteufel lässt sich nicht

So ohne weiteres vertreiben.

Das wird uns im Gedächtnis bleiben.

Entschuldigend möchten wir schließen

mit vielen weihnachtlichen Grüßen.


Papenmeier - 20+

alte Taschenuhr auf einer Bank, daneben Text "20+ Jahre im Papenmeier Team" + kleiner Störer "Annes Blog"

Es gibt Artikel, die eigentlich schon letzten Sommer geschrieben worden wären, zum Beispiel, wenn man 20-jähriges Firmenjubiläum hatte. Dies war bei mir Mitte Juli 2021 der Fall. Ich erhielt liebe Glückwünsche, für die ich mich, auch ein halbes Jahr später, herzlich bedanke.

Lebhaft kann ich mich an meinen ersten Arbeitstag im Juli 2001 erinnern. Nach der Begrüßung durch die Kollegen und einem Firmenrundgang, schwerpunktmäßig durch die Reha-Abteilung, erhielt ich einen Prospekt über eine Vergrößerungssoftware, der ins Englische übersetzt werden sollte. Ein Sprung ins kalte Wasser, da ich mich, selbst mit Braille und Sprache arbeitend, nicht wirklich mit Vergrößerung auskannte, von den englischen Begriffen ganz zu schweigen. Verzweifelt saß ich am Rechner und tat mein Bestes, nachdem ich mir erstmal Informationen über Vergrößerungsprogramme eingeholt hatte. Dann erhielt ich die Nachricht, dass ich für zwei Ausstellungen im September eingeteilt war und gleich am nächsten Tag mit einem Kollegen zum Kunden fahren würde. Es ging also direkt in die Vollen, aber auf diese Weise lernte ich schnell mich in den alltäglichen Wahnsinn und in das Leben einer Produktmanagerin einzugewöhnen.

Zu meinen Aufgaben im Fachbereich RehaTechnik gehörten/gehören Kundenberatung, hauptsächlich per Telefon, Übersetzungen von Texten wie Datenblättern oder Bedienungsanleitungen, Teilnahme an Messen und Ausstellungen sowie Hilfestellung bei Produkten wie Braille- oder Vorlesegeräten. Nicht zu vergessen ist das Korrekturlesen von Braillematerial aller Art: Handbücher, Datenblätter oder Braillekalender.

Natürlich gibt es in jedem Job Höhen und Tiefen: Aufgaben, die man gerne macht oder Tätigkeiten, die nicht zu den Favoriten gehören.

Lasse ich meine Papenmeier-Zeit Revue passieren, fallen mir viele positive Begebenheiten ein, von denen ich als Beispiel Folgende herausgesucht habe:

Zwei Wochen nach meinem ersten Arbeitstag besuchte der damalige Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, wie sie seinerzeit hieß, die Firma. Ich durfte die 80-ger Braillezeile vorführen und ein paar salbungsvolle Worte über das Arbeiten mit Braillezeile sagen. Zu meinem Erstaunen war ich völlig locker, und Herr Jagoda war es auch. Am nächsten Tag erschienen meine Hände auf der Braillezeile in der Lokalzeit des WDR-Fernsehens.

Im heißen Sommer 2003 kam ein Kollege aus der ehemaligen Abteilung Steuerungsbau auf mich zu. Ich könnte doch Englisch und er hätte hier ein Dokument zum Thema Walzspaltregelung. Ob ich ihm das mal kurz übersetzen würde. Ich stutzte. "Walzspalt… was? Hab' ich noch nie gehört, auch nicht auf Deutsch. Bitte um "Aufklärung". Diesen Sachverhalt hier zu erklären, wäre ein bisschen zu viel des Guten. Im Gedächtnis bleibt jedenfalls der englische Begriff "roll gap control" und die damit einhergehenden Vokabeln, die mir, bei tropischen Temperaturen, im Hals stecken blieben.

Auch auf Ausstellungen und Messen gab es schöne Begegnungen.

In einem Jahr war auf der SightCity in Frankfurt eine Gruppe mit taubblinden Menschen. In weiser Voraussicht hatte ich mir das Lormen angeeignet, ein Tastalphabet, in dem der "Sprechende" dem "Zuhörer" in die Hand buchstabiert. Die Vokale "a, e, i, o, u" werden durch Tippen auf die Fingerspitzen dargestellt. Für Konsonanten und Umlaute gibt es wiederum andere Zeichen. Auf dieser Messe konnte ich das Erlernte in die Praxis umsetzen und freute mich, wenn mein Gegenüber mir zu verstehen gab, dass ich mich richtig ausgedrückt hatte. Ein taubblinder Herr, der ein bisschen sprechen konnte, quittierte meine Zeichen mit "klar. klar" und lormte zurück. Wenn ich ihn nicht verstand, legte ich seine Hand an meinen Kopf und schüttelte ihn. Er lormte erneut, jetzt langsam und deutlich, denn auch beim Lormen kann man "schmieren". Am Ende des Gespräches lachten wir und der Betreuer meinte, er hätte dadurch eine kleine Pause machen können.

Auf den Papenmeier internen Ausstellungen wurde ein Imbiss angeboten: Getränke, Brötchen, oft Gebäck oder Kuchen. Es war also nicht nur für das geistige, sondern auch für das leibliche Wohl gesorgt, was dankbar angenommen wurde.

Hin und wieder kam es vor, dass sich ein Interessent wesentlich mehr für Essen und Trinken, als für unsere Produkte interessierte. Daraufhin notierte meine Kollegin stets: "Kunde hatte wenig Interesse, aber viel Hunger."

Aber auch am Telefon kann man eine Menge interessanter Geschichten erleben.

Eine Kundin beschwerte sich, dass ihr Daisy-Player kaputt sei und wir keine gescheiten Geräte verkaufen würden. "Was funktioniert denn an Ihrem Player nicht?" wollte ich wissen. Nach einer weiteren Schimpftirade kam, langsam, in kölschem Dialekt: "Dat können se ja jar nisch wissen. Mir is dat Jerät ins Spülwasser jeraten. Jetz iset nur noch am Vibrieren." Ich hob mir das Lachen für nach der Beratung auf und wir schickten der Dame einen neues Hörbuchabspielgerät mit der Bitte, es doch möglichst nicht ans Spülbecken zu stellen.

So landeten Daisy-Player, besonders die kleinen Geräte, schon mal im Hundenapf, in der Waschmaschine oder in der Toilette.

Viele schöne Erlebnisse hatten wir im Kollegenkreis - sei es bei alljährlichen Sommerfesten, auf denen ich mehrmals Saxophon spielte, oder in kleinem Kreis, wenn ein besonderes Ereignis gefeiert wurde. Ebenfalls zählten gemütliche Abende nach Ausstellungen dazu sowie die Veranstaltungen am Donnerstagabend während der SightCity.

Wie in jedem Arbeitsleben gab/gibt es auch traurige Zeiten. So hat die "Reha-Familie" im Laufe der letzten Jahre mehrere Mitglieder verloren.

Unser früherer Exportmanager, Hans-Werner Ring, verstarb im Januar 2012. Im September 2012 mussten wir Abschied von unserem ehemaligen Fachbereichsleiter Jürgen Bornschein nehmen. Im Januar 2016 starb unser langjähriger Betriebsrat Martin Köster. Im Dezember 2017 nahmen wir Abschied von unserem früheren Chef Günther Papenmeier. Unser Kollege Werner Hoog, der viele Jahre die Hotline betreute, starb im März 2019. Wir trösteten uns gegenseitig und verabschiedeten uns auf den Beisetzungen von den Kollegen.

Nun hat Corona einiges verändert. Viele arbeiten im Homeoffice, was gut funktioniert. Allerdings sieht man sich dadurch nicht mehr sehr häufig live, sondern ist meist über Teams, Zoom, E-Mail oder Telefon in Kontakt. Reale Begegnungen sind eher selten geworden.

Was die nächsten Jahre bringen werden, bleibt abzuwarten. Fest steht jedoch, dass meine bisherige Zeit bei Papenmeier von überwiegend Positivem geprägt ist. Ich danke allen, die mich auf dem Weg begleitet haben und weiterhin begleiten.


Wir sehen uns - nicht nur mit den Augen

Frau hält sich die Augen zu, auf den Handrücken sind Augen gezeichnet; oben links Störer "Annes Blog"; oben rechts Logo Papenmeier RehaTechnik; unten Text "Wir sehen uns - nicht nur mit den Augen"

"OK", schließe ich ein ganz normales Telefongespräch mit einer Bekannten ab,"Wir sehen uns morgen. Ich freu mich." Kurzes Schweigen ihrerseits. "Ist was?", frage ich irritiert. "Sehen ist gut - in deinem Fall." Sagt sie schließlich und lacht verlegen. "Dann nehmen wir doch besser treffen", schlägt sie vor. "Warum?", entgegne ich. "Na, ja", sie zögert. "Aber du kannst doch nicht sehen." "Darf ich also nicht sagen: Wir sehen uns?" gebe ich zurück. "Wenn wir uns morgen begegnen und ich begrüße dich, wir umarmen uns, ich streiche dir übers Haar, um deine neue Frisur zu begutachten - dann sehe ich auf meine Art - nicht mit den Augen, aber mit den Fingern, den Ohren, mit allen anderen Sinnen." Schweigen. "Außerdem", fahre ich fort, "Soll ich stattdessen sagen: Ich freue mich auf unser - wiedertreffen? Oder Wiederfühlen?" "Du benutzt die Begriffe "sehen, schauen, gucken" so wie wir?" schlussfolgert sie. "Korrekt. Ganz selbstverständlich." Antworte ich "dann kannst du dir auch meinen neuen Pullover an…" Sie zögert. "Na?", frage ich und grinse in mich hinein. "Anschauen." Sagt sie schließlich. "Ich beschreibe dir, wie er aussieht. Außerdem hat er einen angenehm weichen Stoff." "Cool", antworte ich, "bis morgen."

Für Menschen, die mich länger kennen/die ich länger kenne, ist es völlig normal, die visuellen Begriffe bei mir genauso zu gebrauchen wie bei Sehenden. Es ist sogar schon passiert, dass mir jemand etwas unter die Nase hielt und "Guck mal", sagte. Daraufhin erklärte ich: "Schön. Wenn du mir es jetzt in die Hand gibst oder beschreibst, kann ich noch besser gucken." Es mag anfangs für den Ein- oder Anderen verwirrend sein, wenn ein blinder Mensch sich dieser Begriffe bedient, aber warum? Wer sagt, dass man nur mit den Augen sehen kann? Die übrigen Sinne werden oft vernachlässigt und mit ihnen kann man eine ganze Menge sehen. Bin ich mit jemandem unterwegs, ergänzen wir uns gegenseitig. Mein sehender Begleiter beschreibt mir, was mit den Augen wahrgenommen wird. Ich beschreibe der Person hingegen, was man mit den Ohren oder den Händen sieht. Oft stellt daraufhin mein Begleiter fest: "Ach, das habe ich so gar nicht gesehen. Auf die Details habe ich nicht geachtet" und streicht ebenfalls mit den Händen über einen Gegenstand, einen Stoff oder eine Frisur.

Häufig merke ich mir, was eine sehende Person beschreibt. Als ich mit meinem Mann letzten Sommer im Bregenzer Wald auf einer Bergwanderung unterwegs war, sagte ich zu ihm: "Du, da rechts geht es zum Glatthorn, mit dem Hinweis "Nur für Geübte". Erstaunt meinte er: "Stimmt genau. Und da wir nicht ganz so geübt sind, wandern wir hier lieber weiter."

Jeder von uns sagt: "Mal sehen", "Ich guck das nach" oder "Den Text schau ich mir später an." Wieso sollte ein blinder Mensch die Floskeln nicht genauso verwenden wie ein Sehender? Heutzutage heißt es nicht mehr so oft: "Auf Wiedersehen", sondern eher "Tschüss, ciao, mach's gut", und dennoch wird diese etwas aus der Mode gekommene Grußformel noch genutzt. Das Englische "See you" ist allgegenwärtig, auch in Deutschland. Ebenso sagt man ständig Sätze wie: "Siehst du? Wusste ich es doch." oder: "Wie du siehst, ist die Sache kompliziert."

Webseiten und Blindenvereine nutzen nicht selten Slogans wie "wir sehen anders" oder "Wir sehen weiter". Jedes Jahr im Herbst findet die "Woche des Sehens" statt, in der Themen rund ums Sehen/schlecht Sehen/nicht Sehen behandelt werden.

Neben vielen Vorträgen und Informationen gibt es zahlreiche Aktionen, bei denen man beispielsweise ein Computerspiel über die Ohren machen und sich an den Geräuschen orientieren muss. Dabei bleibt der Monitor dunkel. Verschiedene Materialien können ertastet, Kräuter und Gewürze "errochen" werden.

Was folgt daraus? Nicht nur der Sehsinn wird angesprochen, sondern vor allem die anderen Sinne, über die man erfahren/sehen kann.  

Als ich vor einigen Jahren auf der Weihnachtsfeier eines Blindenvereins Saxofon spielte, fragte mich eine blinde Dame danach, ob sie sich das Instrument mal anschauen könnte. Das war natürlich kein Problem!

Während meiner langjährigen Tätigkeit als Beraterin von blinden/sehbehinderten Kunden stelle ich manchmal fest, dass spät erblindete Menschen sich schwerer tun, diese Begriffe ganz normal zu verwenden. So meinte ich vor einigen Wochen bei einer Vorführung zu einer älteren fast blinden Dame: "Schauen Sie sich die großen Tasten des Daisyabspielgerätes an. Sie haben alle eine unterschiedliche Form." Die Dame erwiderte etwas verbittert: "Ich sehe die Tasten nicht mehr. Wie soll ich sie mir denn anschauen?" Ich nahm ihre Hand und zeigte ihr die Tasten auf der Geräteoberfläche. "Stimmt", antwortete sie, "Ich muss erst lernen, auf diese Weise zu sehen."  

Kommen wir am Ende dieses Artikels von den Sinnen zu einem Bestandteil des Körpers, ohne welchen es sich nicht leben lässt und der ununterbrochen schlägt.

Der weltbekannte Autor Antoine de Saint-Exypéry hat in seinem poetischen Werk "Der kleine Prinz" eine Aussage gemacht, die treffender und wahrer nicht sein kann: "Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar."


Musik – die inklusivste Sprache der Welt

Bunte Noten und ein bunter Notenschlüssel tanzen auf den bunten Notenlinien; oben links Störer "Annes Blog"; oben rechts Logo Papenmeier RehaTechnik; unten Text "Musik – die inklusivste Sprache der Welt"

Am 01.08. jeden Jahres ist der Tag des Kanons. Ein Kanon ist ein mehrstimmiger Gesang, bei dem eine Stimme nach der anderen einsetzt. Die erste Stimme wird von den anderen Stimmen genau kopiert. So kann man einen Kanon singen, bis die Stimme versagt oder jemand vorher ein Ende definiert. Beispiele für Kanons sind „Happy birthday to you“ oder „viel Glück und viel Segen“.

Schon sind wir mitten im Thema: Der Musik.

Es gibt wohl kaum etwas Vielfältigeres, Internationaleres oder Inklusiveres. Musik kann einen zur Verzweiflung bringen, wenn man ein Stück übt, was einfach nicht gelingen will oder wenn man einen Song hört, der traurig oder wütend macht, weil bestimmte Erinnerungen wach werden. Vor allem aber bedeutet sie für mich Freude, Trost und Glück.

Während der Corona-Lockdown-Zeit war mir das Musizieren eine große Hilfe. Fast täglich spielte ich Saxophon und probierte alle möglichen Genres aus: Jazz, Swing, Pop, manchmal auch Klassik. Da sich die Band, in der ich singe und Saxophon spiele, nicht zum Proben treffen durfte, begann ich mit einem sehr guten Freund und Bandmitglied, der Ukulele und Bass spielt, zunächst online zu musizieren. Torsten schickte mir die Akkorde, ich spielte Saxophon dazu. Danach wurden Cajon und Bass ergänzt. Mein Mann, unser Hobbytontechniker, mischte das Resultat geduldig und feinfühlig ab. Auf diese Weise entstanden unsere ersten Songs. Als wir uns endlich wieder live treffen konnten, war das Musik machen um so schöner. Es entstanden auch die ersten Eigenkompositionen und am Ende des Jahres 2020 entstand sogar ein Album, das wir „Momente“ nannten, denn immer, wenn ein Song fertiggestellt worden war, löste dies bei uns ein Hochgefühl aus – einen Glücksmoment. Wer Lust hat, in unsere Stücke hineinzuhören, dem sei folgender Link auf Soundcloud empfohlen:

https://soundcloud.com/user-769348490

Das Spielen vor Publikum empfinde ich heute zum einen als Herausforderung, zum anderen als große Bereicherung, sowohl für den Musiker als auch – hoffentlich - für die Zuhörer.

Als Kind spielte ich hin- und wieder in Gottesdiensten oder auf Feiern Blockflöte. Ehrlich gesagt habe ich es damals nicht gerne gemacht. Meine Angst, nicht gut genug zu sein, war groß. Ich musste fleißig üben, damit ich die Stücke zum jeweiligen Zeitpunkt auswendig und möglichst fehlerfrei aufführen konnte. Genauso erging es mir, wenn ich irgendwo vorgesungen oder Klavier/Gitarre spielte. Ich kann mich noch gut an ein Vorspiel bei meiner damaligen Klavierlehrerin erinnern, die alle ihre Schüler einlud, in lockerer Atmosphäre etwas zum besten zu geben. Ich wollte auf dem Klavier die Akkorde zu Cyndi Laupers Hit „Time after Time“ spielen und dazu singen. So der Plan. Mir klopfte das Herz bis zum Anschlag und der Gesang kam nur sehr verhalten und leise. Verspielt habe ich mich sicher ständig, da meine Finger feucht waren und mir nicht recht gehorchten. Ein klassischer Fall von starkem Lampenfieber. Vor Verwandtschaft zu spielen, war für mich am schlimmsten. Ich hatte Angst sie zu enttäuschen, wenn ich das, was ich eigentlich zu leisten imstande war, nicht zuwege brachte.

Im Chor singen und auftreten war dagegen kein Problem. Ab und zu sang ich sogar  solo und es bereitete mir keine Angst, sondern Spaß, wenn wir bei einem Geburtstagsfest, in der Kirche oder bei anderen Gelegenheiten vor Publikum sangen. Saßen wir nach den Aufführungen  zusammen, quatschten, aßen und tranken etwas feines, war die Sache perfekt. In der Gruppe war es völlig gleichgültig, welche Hautfarbe oder Beeinträchtigung jemand hatte oder aus welchem Land sie/er kam, Wir bildeten eine Gemeinschaft, die ein gemeinsames Hobby hatte: das miteinander Singen.

Nach der zehnten Klasse absolvierte ich ein Schuljahr an der „Overbrook School for the Blind“ in Philadelphia. Ich nahm an einem „internationalen Programm“ teil. Blinde und sehbehinderte Jugendliche aus 17 verschiedenen Ländern kamen zusammen, die nicht nur gemeinsam zur Schule gingen, sondern auch gemeinsam musizierten. So bestand der Schulchor aus Sängerinnen/Sängern unterschiedlicher Nationen. Neben amerikanischen Songs lernten wir Lieder aus den jeweiligen Herkunftsländern der Teilnehmer kennen, welche wir im Weihnachts- und Frühlingskonzert zum besten gaben. Im „Bell Choir“ musizierten wir mit diversen Handglocken und ich hätte nicht gedacht, dass man auf diese Weise so vielfältige und schöne Stücke, von Klassik bis Pop, spielen konnte.    

Ende 2010 erfüllte ich mir einen langgehegten Traum: Ich lernte Saxophon spielen. Wie ich in einem anderen Artikel erwähnte, war es am Anfang gar nicht leicht, an eine Lehrerin/einen Lehrer zu kommen. Die städtische Musikschule konnte sich nicht vorstellen, eine blinde Schülerin zu unterrichten, der man nicht einfach ein Notenblatt unter die Nase halten konnte. Meine Argumente, man könne mir die Stücke auf mein Diktiergerät spielen und ich würde sie auf diese Weise lernen oder ich könnte ebenso Noten in Braille aufschreiben, wurden nicht erhört. Ich gab nicht auf und versuchte es an privaten Musikschulen. Nach einiger Zeit meldete sich die Chefin einer Einrichtung und fragte: "Wann soll ich zur Probestunde bei Ihnen vorbeikommen? Und welches Saxophon möchten sie ausprobieren? Alt oder Tenor?" Ich entschied mich für Alt, weil ich gehört hatte, dass man in der Regel damit anfing. Die Probestunde verlief erfolgreich und kurz darauf begann der Unterricht, den ich einige Jahre nahm.

Heute spiele ich sowohl Alt- als auch Tenor und Sopransaxophon. Jedes Instrument hat seine Eigenheiten und zeichnet sich auf seine Weise aus. Es macht großen Spaß, darauf zu spielen, Neues zu lernen und auszuprobieren.

Aus meiner Angst vor Auftritten ist Freude geworden. Durch gute Gespräche, u.a. mit meinen Verwandten und einer anderen Herangehensweise habe ich spaß daran, Menschen mit Musik zu unterhalten, sowohl mit Hilfe von Playbacks, zu denen ich spiele als auch mit anderen Musikern, die mich enorm bereichern!

Auf einem "Family and Friends"-Konzert unserer Band im Februar 2020 spielten wir den Pink Floyd-Klassiker "Wish you were here". Eigentlich kommt in diesem Song kein Saxophon vor. Wir arrangierten den Titel so, dass ein Sax-Solo hineinpasste. An der entsprechenden Stelle wollte ich mit dem Ton Gis starten und es kam nur ein G heraus. Die Gis-Klappe klemmte, ein häufiger auftretendes Phänomen bei Blasinstrumenten wie Saxophon oder Klarinette. Ich mogelte mich durch die Solopassage und dachte: "Da muss ich jetzt irgendwie durch." Das Gis zu umgehen erwies sich als ziemlich schwierig und das Solo klang - nennen wir es - anders als erwartet. Nach dem Stück moderierte ich wie folgt: "Wenn das Saxophon vorhin etwas komisch klang, die Gis-Klappe klemmte. Sorry." Jemand aus dem Publikum rief: "Was hat geklemmt? Die Gipsklappe?" Erleichtertes Lachen unsererseits und seitens der Zuschauer. Vor dem nächsten Stück kam meine Ansage: "So, jetzt mit ohne Gipsklappe." Diese überprüfe ich nun vor jedem Auftritt.

Am Schluss des Konzertes gaben wir „Over the rainbow“ zum besten. Torsten spielte Ukulele, ich sang. Natürlich gehört eine gewisse Aufregung dazu, aber es war und ist ein tolles Gefühl, das Publikum „in der Hand“ zu haben und zu wissen, dass der berühmte Funke überspringt.  

Im Juni machte es mir großen Spaß, auf unserem Firmensommerfest Saxophon zu spielen. Als wir vor drei Wochen im Urlaub in den Bregenzer Wald fuhren, musizierte ich auf der Terrasse des Bergrestaurants unserer österreichischen Freunde. Am Ende eines Auftritts kam eine ältere Dame auf mich zu. "Das muss ich Ihnen sagen", begann sie, "Ihre Musik ist das Highlight meines Urlaubs. Meine Schwester sieht das genauso." Am letzten Tag des Urlaubs spielte ich mehrere Sets. Das Wetter passte ausgezeichnet zur Stimmung. Eine Gruppe Slowaken, die auf Mountainbikes gekommen war, läutete die Kuhglocken, welche sich auf einem Ständer befanden, so wie beim Zieleinlauf der alpinen Skifahrer bei Wintersportwettbewerben. Ein kleines Mädchen drückte mir 50 Cent in die Hand. "Ich wollte dir mehr geben, aber mein Bruder hat sich ein Eis gekauft. Jetzt hab ich nur noch 50 Cent." "Hat er dir von dem Eis wenigstens was abgegeben?", wollte ich wissen. "Nö. Tut der nie." Gab das Kind zurück. "Du bist cool, danke." Erwiderte ich und umarmte sie.

Torsten und ich machen nach wie vor mit Begeisterung Musik und arbeiten an neuen Stücken für unser nächstes Album. Mit der Band haben wir vor kurzem einen Gottesdienst gestaltet. Am 27. August feierte ich mit Familie und Freunden meinen runden Geburtstag. Im Biergarten des Restaurants gaben wir ein kleines Konzert. Sowohl die Band als auch die Gäste hatten großen Spaß an unserer „Performance“. Songs wie „Oh Happy Day“ und „Over the Rainbow“ als Zugabe durften nicht fehlen.     

Im Eurovision Song Contest des Jahres 2002 hieß der Titel des von Corinna May gesungenen deutschen Beitrags "I can't live without music." (Ohne Musik kann ich nicht leben).

Dem stimme ich zu!


Momente oder: Wenn die Zeit still steht

Eine Hand fährt durch Haferähren im Sonnenlicht + Text "Annes Blog Momente"

Der Spruch „Collect moments, not things” (Sammele Momente, anstelle von Dingen), steht auf einem meiner T-Shirts. Jedes Mal, wenn ich es trage, rufe ich mir ins Gedächtnis, dass man öfter den Moment genießen sollte, statt ständig an andere Dinge zu denken, gerade, wenn es einem mal nicht so gut geht.

Aber was sind solche Momente, in denen man ganz bei sich selber ist?

Hier kann ich nur meine eigenen Erfahrungen wiedergeben.

Als ich gestern morgen aufwachte, den Rollladen hochzog und beide Fensterflügel öffnete, hörte ich ein Rotkehlchen singen. Ich legte mich wieder ins Bett und lauschte für eine Weile dem Gesang. Die kühle Morgenluft strich über mein Gesicht. Ich lag einfach da und genoss diesen Moment.

Betrachte ich im Garten eine Rose, streiche über ihre Blätter und rieche ihren Duft, so genieße ich den Augenblick, in dem ich nichts anderes tue, als diese Rose mit allen Sinnen anzuschauen.

Es sind nicht nur Momente, in welchen ich komplett bei mir selbst bin, sondern auch Situationen oder Erlebnisse. Vor einigen Wochen war ich mit meiner Freundin an der Ruhr. Es war ein heißer Sommertag, und da half nur Abkühlung. Also nahmen wir ein Bad im Fluss. Um uns herum vernahm ich Wasservögel, Blesshühner, die einander jagten, schnatternde Enten, eine lauter als die andere. Das Wasser roch nach Fluss, ein ganz eigener Geruch, den man schlecht beschreiben kann. Vom Ufer her kamen diverse Geräusche: Eine Luftmatratze wurde aufgeblasen. Jugendliche stritten miteinander, halb auf Türkisch, halb auf Deutsch. Bierflaschen wurden geöffnet. Aus einem Lautsprecher drang Musik. Alles war in dem Augenblick perfekt, sogar der Schlamm unter unseren Füßen. Wir schwammen etwas weiter hinaus. Ich tauchte unter, blieb ein paar Sekunden unter Wasser, tauchte langsam wieder auf. Die Sonne wärmte unsere Gesichter, unsere Haare. Das Wasser erfrischte unseren Körper. Ein Gefühl der Leichtigkeit stellte sich ein. Alles andere rückte in den Hintergrund und war unwichtig. Sorgen gab es nicht, es lief alles ganz von selbst. Der Rest des Nachmittags verlief in ähnlicher Weise. Nach dem Baden saßen wir auf unseren Strandtüchern, sonnten uns, redeten und tranken ein kühles Bier, nachdem wir uns einen Flaschenöffner ausgeliehen hatten. Später fuhren wir zu meinem Lieblingsitaliener und verlebten einen wunderschönen Sommerabend auf dessen Terrasse.

Mit einem Glücksgefühl schlief ich irgendwann in dieser Tropennacht ein. Meine Freundin hatte mir zuvor, als sie wieder zu Hause war, eine SMS geschrieben mit dem Text: „DANKE für diese herrlichen Stunden mit dir. Ich hatte das Gefühl, dass die Zeit stillstand.“ Dies konnte ich nur bestätigen.

Manchmal sind es winzige Augenblicke, wie das Hineinbeißen in einen knackigen Apfel oder das Naschen eines Stückchens Schokolade, was langsam auf der Zunge zergeht. Oft hebt es bei mir schon die Stimmung, wenn ich ein gutes Lied im Radio höre oder selbst Musik mache, wie im vorherigen Artikel beschrieben. Wenn ich ein Stück spiele, es mir erarbeite oder mit Freunden musiziere, bin ich ganz bei mir selbst. Alles, was drumherum ist, wird ausgeblendet.

Oftmals reicht in schwierigen Situationen schon ein Witz, ein Lachen, eine Berührung oder ein aufmunterndes Wort, damit es mir besser geht.
Natürlich habe ich, wie jeder andere Mensch auch, Ängste und Sorgen, sowohl, was Krieg, Pandemie, steigende Gas- und Strompreise betreffen, als auch private Dinge, die mir Angst einflößen. Häufig stellen viele Menschen sich die Frage, was zu einem bestimmten Zeitpunkt sein wird, warum es in der Vergangenheit anders gelaufen ist als vorgesehen oder wieso die Beziehung zu einem Verwandten/Bekannten nicht so ist, wie man sie gerne hätte. Antworten auf solche Fragen findet man nur sehr bedingt. Von einer Psychologin habe ich dazu eine interessante Aussage gehört: "Das Leben ist wie ein Drehbuch. Wir können es nur zu einem bestimmten, kleinen Teil mitgestalten."

Vieles lässt sich in der Tat nicht beeinflussen, aber in einigen Situationen kann man durchaus mitwirken, sodass etwas Positives dabei herauskommt – und das geschieht in einem Moment oder während eines Erlebnisses mit vielen schönen Augenblicken. Eine Zeitlang habe ich in einem Tagebuch solche Momente festgehalten. Ich habe mich abends gefragt: "Was war heute gut? Wofür bin ich dankbar?" Irgendetwas hat sich stets gefunden/findet sich immer noch.

Besonders gefallen mir die Momente oder Erlebnisse, bei welchen die Zeit stillzustehen scheint, wie zuvor geschildert.

Als mein Mann und ich im Juni einen Ausflug ins Sauerland gemacht hatten, hielten wir auf dem Rückweg an der Alm-Quelle. Als wir ausstiegen, läuteten gerade die Glocken am Ende eines Gottesdienstes. Wir blieben einfach stehen und lauschten. Wir hatten keine Eile weiterzugehen und genossen diese Minuten, ohne an etwas anderes zu denken. Abends, wieder zu Hause, hörte ich mir die Glocken nochmal auf der Aufnahme an, die wir gemacht hatten. Erneut schien die Zeit stillzustehen. Ich beschloss, ein Stück zu komponieren mit dem Titel "When time stands still".

Den Titel habe ich immerhin schon - das Stück wird sich finden!


Danke

Bild von Anne + Text oben links "Danke"

Zunächst einmal wünsche ich uns allen ein glückliches neues Jahr mit jeder Menge Gesundheit! Möge es möglichst viel Positives bereithalten!

Da heute der internationale Tag der Dankbarkeit ist, möchte ich ein wenig an den Artikel anknüpfen, welchen ich zum Thema "Innehalten" und "schöne Momente" verfasst habe.

Gestern war so ein richtiger Sch…Tag. Solche Tage gibt es im Leben eines jeden Menschen und dann kommt eins zum anderen. Zu diversen Unstimmigkeiten und unnötigen Verkomplizierungen kam mein bockiger Rechner sowie die dazugehörige Telefonanlage. Sie wollten einfach nicht so wie ich und schlussendlich halfen mir zwei sympathische, kompetente Kollegen, die Kiste wieder flott zu kriegen. An dieser Stelle vielen Dank dafür. Eine halboffene Tür stand ebenfalls im Weg sowie eine halb geöffnete Spülmaschinenklappe, die mir den zweiten blauen Fleck einbrachte. Nicht wirklich vom Glück beseelt kam ich abends ziemlich spät nach Hause. Dort angekommen, hätte ich mich am liebsten ins Bett verkrochen, zumal es draußen regnete und ein fieser Wind ging. Aber später war Bandprobe und da wollte ich gerne hin. Eine wohltuende Dusche erschien mir in dem Fall als das Richtige. Dabei entspannte ich mich tatsächlich und gönnte mir hinterher mit meinem Mann ein leckeres Abendessen, das er, als ich aus dem Bad kam, zubereitet hatte. Ich bedankte mich sehr bei ihm.  

Die Bandprobe war schön und in doppelter Hinsicht beschwingt. Zwei Mitglieder hatten kurz hintereinander Geburtstag und spendierten einen Kreislaufverstärker in Form von Sekt. Auf diese Weise endete der Tag doch noch positiv. DANKE an alle, die mir gutgetan haben und es jeden Tag tun.

Obgleich wir in unserem Leben auf zahlreiche Missgeschicke, Pannen und diverse Widrigkeiten von außen stoßen, können wir immer wieder dankbar sein, zum Beispiel für Essen, Kleidung, ein Dach überm Kopf und hoffentlich ein bisschen Wärme trotz hoher Heizkosten; für den Arbeitsplatz, den Kontakt mit Kollegen und besonders für alle lieben Menschen, die einen durchs Leben begleiten.

Ich denke, dass jede/r für sich selbst überlegen kann, wofür sie/er Dankbarkeit empfindet. Letzten Endes überwiegt nach meinem Empfinden das Positive und Wertvolle, auch wenn es manchmal schwerfällt, dies zu erkennen. Mir hilft ein kleines Tagebuch, in dem ich die guten Dinge kurz skizziere. Das sind meistens mehr als gedacht, wenn ich dabei bin, sie aufzuschreiben.

So wünsche ich uns für dieses Jahr vieles, wofür wir dankbar sein können.

DANKE an die Leser meines Blogs!


Das kann ich mir nicht vorstellen oder: Barrieren im Kopf

Jeder von uns kennt die Situation, sich bestimmte Dinge/Sachverhalte nicht vorstellen zu können. Mir geht es als blinde Person manchmal auch so. Wie erlebt ein gehörloser Mensch Musik oder wie kommt jemand im Rollstuhl mit vielen Treppen zurecht?

Dann gibt es Situationen, in denen ich erlebe, dass sich meine sehenden Mitmenschen nicht vorstellen können, wie dies und jenes vonstattengeht.

In unserer Nachbargemeinde wollte ich in einer Musikgruppe mitspielen/mitsingen, welche Gottesdienste gestaltet. Die Gruppenleiterin kam dieser Bitte nicht nach und äußerte sich lange nicht dazu bzw. wenn, dann mit schwammigen Aussagen wie: "wir haben schon eine Saxophonistin" oder "wir sind genug Sänger" oder: "wir entscheiden oft spontan, was wir spielen/singen.".

Aufgeben kam nicht infrage. Im letzten Blogartikel über Musik erwähnte ich, dass ich mit unserem lieben Freund Torsten begeistert musiziere und wir zusammen in einer Band spielen. Er ist schon lange in der Musikgruppe. Als sich die nächste Probe und der dazugehörige Gottesdienst ankündigte, sprach Torsten mit der Leiterin. Es stellte sich heraus, dass sich Bettina nicht vorstellen konnte, wie das mit mir funktionieren würde. Keine Noten, nicht vom Blatt singen können, keine Texte vor Augen etc. Torsten überzeugte Bettina schließlich, dass ich zur nächsten Probe kommen und mitmachen sollte. Die Texte der Lieder, die im Gottesdienst gesungen wurden, suchten wir aus dem Internet heraus oder er las sie auf mein Diktiergerät bzw. schickte sie mir als Sprachnachrichten per WhatsApp. Indem ich alles in meinen Rechner schrieb, bekam ich ein Gefühl für die Stücke. Dabei stellte ich fest, dass ich einige bereits kannte. Ebenso sollten Spirituals gesungen werden, die ich sehr mag.

Nachdem sich die Texte im Computer befanden, druckte ich sie in Braille aus und nahm die Mappe mit zur Probe in die Kirche, ebenso mein Saxofon.

Nach einer kurzen Begrüßung ging es ans Eingemachte. Und - siehe da - es funktionierte schon sehr gut. Ich hatte mir einige Stücke auf YouTube angehört und die für mich neuen Songs lernte ich über meine Mitsänger und Instrumentalisten. Der Keyboarder unserer Band ist auch in der Musikgruppe aktiv und spielte mir die Melodien vor. Alle waren sehr nett und herzlich. Lustigerweise kannte ich einige aus der Gruppe von anderen Musik-Projekten. Mein Mann, der sich um die Technik kümmerte, nahm einen Großteil der Probe auf, sodass ich mir das meiste später zu Hause noch einmal anhören konnte. Der Gottesdienst am nächsten Abend war schön und die Kirche von Alt und Jung gut besucht. Sowohl unsere Gruppe als auch die Gemeinde hatte Spaß an der Musik. Bettina strich ab und zu andächtig über meine mit Braillepunkten gefüllten Seiten und sagte leise: "Kann man das alles lesen?". "Oh ja", gab ich schmunzelnd zurück. Als der Gospelsong "I have decided to follow Jesus" angestimmt wurde, "rockten" wir die Kirche. Alle standen und klatschten mit. So hatte ich die "Feuertaufe" in der Gruppe mit Bravour bestanden und es wird hoffentlich ein "Wiedersaxen / Wiedersingen" geben.

Situationen wie diese sind mir im Laufe meines Lebens häufiger begegnet.

Ich finde es völlig in Ordnung, wenn mir Fragen gestellt werden: "Wie machst du das? Woher weißt du…? Aber wie soll das gehen, wenn man nicht sehen kann?" Ich sage in dem Fall stets: "Ihr könnt mir Löcher in den Bauch fragen. Wenn etwas unklar ist, sprecht mich an. Das ist wesentlich effektiver als "Das geht ja bei dir gar nicht" oder: "wenn man blind ist, kann man das eh nicht.". Natürlich gibt es Dinge, die man als blinder Mensch nicht oder nur mit viel Hilfe bewältigen kann, das steht außer Frage. Aber eine Menge ist, auch Dank der heutigen Technik, gut machbar, wie beispielsweise die Bedienung eines Smartphones, eines Computers oder verschiedener Haushaltsgeräte.

Auch im Sport ist eine Menge möglich. Hier habe ich bereits viel ausprobiert: Judo, Reiten, Leichtathletik, Schwimmen, Tandem fahren, Tanzen, Ski laufen. Als ich während meiner Studentenzeit geritten bin, wollten meine Schwägerin und ich Reiterferien machen. Wir schrieben verschiedene Anbieter an und bekamen fast jedes Mal zur Antwort, dass man es sich nicht vorstellen könnte, eine blinde Reiterin in der Gruppe zu haben. Komischerweise funktionierte dies in der lokalen Gruppe, in welcher ich ritt, ohne Probleme und die Lehrerin war sehr zufrieden. Beim Reiten im Freien gab es ebenfalls keine Schwierigkeiten. Das Pferd kannte die meisten Wege und folgte den anderen, auch in unbekannterem Gelände.

Vor einigen Jahren hatte ich das Glück, im spanischen Doñana Nationalpark zu reiten, zum Teil am Strand entlang. Ich ritt direkt hinter dem Guide und es war ein beeindruckendes Erlebnis. Als ich zuvor bei der Anmeldung angab, nicht sehen zu können, meinte man nur: "No problema. Todo bien. (kein Problem. Alles in Ordnung).“  

Heute konzentriere ich mich schwerpunktmäßig auf Musik, gehe aber weiterhin gerne ins Schwimmbad, auf den Crosstrainer oder Walken.

Am 04. Mai nahm ich erfolgreich am AOK-Firmenlauf teil, aber davon berichte ich in einem anderen Artikel.

Abschließend möchte ich jeden von uns ermutigen, vorhandene Barrieren, die hauptsächlich im Kopf entstehen, abzubauen und ohne Vorurteile an eine Sache heranzugehen bzw. sich von diesen zu lösen. Indem man sich auf Neues einlässt, wird man bereichert und geht ungezwungener mit anderen Menschen, aber auch mit sich selbst um.

Am Schluss des Udo-Lindenberg-Musicals, das ich 2010 in Berlin gesehen habe, werden die Zuschauer ermutigt, die Mauer in ihren Köpfen einzureißen. Besser kann man es, denke ich, nicht zum Ausdruck bringen.


Rezension zum Buch: "Know your Rights" von Claudia Kittel

Foto der Versionen in Großschrift und Braille des Buches "Know Your Rights! von Claudia Kittel

Wenn die Firma Papenmeier für ein Buch die goldene Patenschaft übernimmt, ist dieses Werk wert rezensiert zu werden.

Das Buch ist schwerpunktmäßig für junge Leser geschrieben und trägt den Titel "Know your Rights / Klartext über die Rechte von Kindern und Jugendlichen", erschienen im Dressler Verlag / Hamburg. Die Autorin und Diplompädagogin Claudia Kittel leitet die Monitoring-Stelle UN-Kinderrechtskonvention des Deutschen Instituts für Menschenrechte in Berlin. Sie prüft mit ihrem Team die Umsetzung der Kinderrechte in Deutschland. Beteiligungsrechte liegen ihr besonders am Herzen. Daher kommen in diesem Buch Kinder und Jugendliche sowie Lehrer zu Wort.

"Know your Rights" ist anschaulich und informativ geschrieben. So erklärt die Autorin grundlegend den Begriff Menschenrechte, der die Basis der darauf aufbauenden Kinderrechte bildet, denn ohne Menschenrechte gibt es keine Kinderrechte. Kittel erläutert den Begriff UN-Kinderrechtskonvention auf anschauliche Weise und bereichert jede Begriffserklärung mit zahlreichen Beispielen. Sie geht genau auf die Menschenrechtsverträge ein und erklärt, was diese beinhalten. Frauen sollen nicht diskriminiert, Menschen mit Behinderung nicht benachteiligt werden. Gewaltfreie Erziehung bzw. ein Miteinander ohne Gewalt ist ebenfalls ein entscheidendes Thema. Der lange und mühsame Weg von der Unterzeichnung einer Konvention bis zu deren Verwirklichung und deren Verabschiedung durch die UN-Generalversammlung wird detailliert dargestellt. Dabei kommen die Jugendlichen selbst zu Wort: Eine 12-jährige Schülerin, ein 17-jähriger Schülersprecher, aber auch eine Lehrerin, die ihre Unterrichtsmethoden erläutert und aufzeigt, wie wichtig es ist, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zu definieren. "Die Beschäftigung mit den Kinderrechten - kann gar nicht früh genug beginnen", so die Pädagogin wörtlich.

Das Buch wird durch "peppige" und den Leser aufhorchen lassende Überschriften wie "Engagement lohnt sich" oder "Wusstest du, dass …?" aufgelockert. Die immer wieder kehrende Anregung "Think about it" animiert die Jugendlichen zum Mitmachen. So sollen sie selbst eine Meinungsumfrage starten und dabei herausfinden, wer den Begriff "Kinderrechtskonvention" kennt bzw. was er bedeutet. Hervorgehoben werden die eingerahmten Kästchen in der Braille-Ausgabe durch eine gepunktete Linie. Vorne im Buch finden sich Erläuterungen zur Punktschriftausgabe. Zitate, die in der Schwarzdruck-Ausgabe durch kursive Schrift gekennzeichnet werden, sind in der Braille-Ausgabe um zwei Formen zum übrigen Text eingerückt.

Erwähnenswert ist auf jeden Fall, dass die Autorin ihren Lesern durch Telefonnummern und Internetseiten Informationen an die Hand gibt, an wen sie sich im Notfall wenden können, z.B. an die Polizei, das Jugendamt oder die "Nummer gegen Kummer".

Als erwachsene Leserin möchte ich "Know your Rights" als gelungen und lesenswert bezeichnen. Originalzitate, die beim ersten Lesen eher schwierig zu verstehen scheinen, werden anschließend erklärt und mit Beispielen ergänzt. Die Einbeziehung von Schülern und Lehrern sowie die Mitmach-Aktionen für die Leserschaft runden das Buch ab. Ich habe beim Lesen zahlreiche Informationen erhalten, die nicht nur für Kinder und Jugendliche nützlich sind. Schließlich gehen Menschenrechte /

Kinderrechte bzw. deren Umsetzung uns alle an und sollten niemandem gleichgültig sein.


Wenn einer eine Reise tut oder: Voyage Voyage

"Wer fährt denn mit dir in Urlaub? Wer übernimmt für dich die Verantwortung?" wurde ich allen Ernstes vor einiger Zeit gefragt. Mir fiel buchstäblich die Kinnlade herunter.

  1. Ich kann sehr gut in Urlaub fahren, sei es mit Gruppen, Freunden, Verwandten oder mit meinem lieben Mann. Kurzum: Menschen, mit denen ich Spaß haben möchte - und diese mit mir!
  2. Als erwachsene Person übernehme ich Eigenverantwortung und darf sogar lange aufbleiben. ;-)
  3. Als blinder Mensch brauche ich hier und da etwas Hilfestellung, z.B., wenn es darum geht, sich am Buffet zu bedienen oder sich mit einer neuen Umgebung vertraut zu machen. Da ich in der Lage bin meinen Mitreisenden zu sagen, wo und wann ich Hilfe benötige, sehe ich hier kein Problem.

Im Juni waren mein Mann und ich an der Costa de la Luz in Spanien auf der Isla Cristina. Wir flogen nach Faro in Portugal und wurden von dort aus mit einem Bus des Reiseveranstalters nach Spanien gebracht. Obwohl ich bereits oft geflogen bin, ließ ich mir von einer freundlichen Flugbegleiterin die Weste unter dem Sitz und die Sauerstoffmaske darüber erklären. Auf manchen Flügen bekomme ich eine Broschüre in Braille mit allen wichtigen Informationen.

Endlich im Hotel angekommen, erhielten wir zu unserer Überraschung eine Suite, obwohl wir ein normales Doppelzimmer gebucht hatten. Wahrlich konnte man in dieser großen Wohnung ein Indoor-Navi gebrauchen. Mit meinem Stock erkundete ich den Flur, das Wohnzimmer, das Schlafzimmer, das große Bad und den Doppelbalkon. Später kannte ich mich aus, verlief mich aber dennoch ab und zu. Auf dem Balkon standen zwei Liegen. Sie hatten den unschätzbaren Vorteil, dass wir uns am Pool keine sichern mussten, wie es so viele Touristen täglich und schon vor dem Frühstück gerne tun.

Beim Frühstück und Abendessen machten wir eine interessante Entdeckung. Wegen fehlendem Personal liefen die meist jungen Kellnerinnen/Kellner herum, räumten schmutziges Geschirr ab, legten neues Besteck hin etc. Vor der Coronakrise waren wir schon einmal im gleichen Hotel und hatten gute Erfahrungen mit dem Personal gemacht, das sehr freundlich war und sich stets über einen Smalltalk freute, bei dem ich meine Spanisch-Kenntnisse anwenden konnte. Nun verhielt es sich anders. Ich erklärte meine Situation, und dass man mich bitte ansprechen sollte, wenn etwas hingestellt oder abgeräumt würde. So kam es, dass gerade in den ersten Tagen mein Teller plötzlich weg war oder das Glas, in dem sich noch ein bisschen Orangensaft befand, nicht mehr vor mir stand. Da sich die Gäste an den Tischen häufig laut unterhielten, und das Personal "herumwuselte" und sich ebenfalls mit schnellen Sätzen verständigte, hörte ich nicht, wenn sich jemand unserem Tisch näherte oder sich entfernte. Nach einiger Zeit wurde es besser und einige Kellner sprachen mich an. Ich entwickelte ein Gefühl dafür, wann Geschirr nicht mehr am Platz war. Am Buffet erkundeten mein Mann und ich, was es an Köstlichkeiten gab. Wir nahmen den ersten Gang mit und setzten uns auf die Terrasse. Beim zweiten Gang und beim Nachtisch gingen wir erneut hin oder ich sagte ihm, was ich gerne haben wollte und er brachte mir das Essen mit.

Im Hotel in Fuerte Ventura, das wir schon mehrmals besucht hatten, gab es einen sogenannten "Privilege"-Bereich. Wir hatten das Glück, diesen zu nutzen und konnten somit wählen, ob wir À la carte essen oder uns am Buffet bedienen wollten. À la carte war gemütlicher und mit weniger Lauferei verbunden. Interessanterweise gab es dort mehr Stammpersonal und man kannte sich bereits. Als mein Mann einmal krank war, half mir abends eine nette Kellnerin und begleitete mich anschließend zum Zimmer. Sie meinte, wir sollten uns melden, wenn wir etwas bräuchten. Allerdings konnten wir das auf der Isla Cristina ebenfalls. Es half uns im Bedarfsfall immer jemand, und die Rezeption war ständig erreichbar.

Auf zahlreichen Reisen mit verschiedenen Personen oder Gruppen habe ich viele positive Erfahrungen gesammelt.
Vor Jahren war ich mit einer Jugendgruppe in Italien an der ligurischen Küste. Ich hatte vor der Reise einen Italienisch-Kurs gemacht, was dazu führte, dass ich mit meinem ein-Semester-VHS-Vokabular als Übersetzerin fungierte. Wir badeten im Meer, wobei ich mich gut an die endlos erscheinenden Stufen erinnere, die wir von der Unterbringung zum Strand laufen mussten. In der Gruppe gab es Jugendliche, die viel mehr über die Treppen jammerten als ich. Als eine Bergtour anstand und ich zögerte mitzugehen, erklärten alle entschlossen: "Anne, du kommst mit. Keine Frage. Ohne dich ziehen wir nicht los." Es wurde eine wunderschöne Tour, bei der wir uns gegenseitig bereicherten, und die mit leckeren Getränken, viel Musik und Gelächter sowie zwei Übernachtungen unter freiem Himmel ausklang.

Mit einer Freundin verbrachte ich einen Urlaub auf Korsika. An ihrem Geburtstag saßen wir in einem Restaurant am Strand, lauschten den Wellen und ließen es uns gut gehen. Auf dem Campingplatz lernten wir Leute kennen, mit denen wir Ausflüge machten. Am letzten Abend gingen wir Feigen klauen, die besonders gut schmeckten.
Eines Morgens stand ich unter der Dusche und plötzlich war das Wasser alle. Ich war eingeseift und hatte Shampoo im Haar. Was tun? Also ging ich, so wie Gott mich einst erschuf, aus dem Waschraum und rief über den Zeltplatz: "Kommt mal einer her? Ich brauche Geld für neues Wasser." Sofort kam jemand angelaufen und meinte trocken: "Kein Thema. Ist mir neulich auch passiert."

Wenn ich von all den Reisen erzählen wollte, die ich bereits unternommen habe, könnte ich Stunden damit zubringen. USA, Kanada, Karibik, Sri Lanka, Norwegen, Griechenland, Kroatien, Italien, Frankreich, Spanien, Schweiz, Österreich etc. Aber auch in unserem eigenen deutschen Lande waren wir an der Ostsee oder in Bayern und sehr regional - im Sauerland!

Berichten möchte ich in diesem Artikel von einem wunderschönen Ausflug, den mein Mann und ich in besagtem Spanien-Urlaub unternahmen. Da wir uns nicht weit von Portugal befanden, buchten wir eine Tagestour, die uns durch Tavira führte, einer idyllischen Stadt mit über 25 Kirchen, engen Gassen, Cafés und Restaurants. Jo, unser Guide, nahm uns in eine Fischmarkthalle mit. Nach einem kurzen portugiesischen Wortwechsel mit den Verkäufern zeigte Jo mir Fische, die ich bisher, wenn überhaupt, nur nach deren Zubereitung kannte. So konnte ich beispielsweise einen Thunfisch, einen Lachs, einen Seeteufel und einen Schwertfisch betrachten. Das lange Schwert dieses Tieres beeindruckte mich! Anschließend fuhren wir nach Fuseta und aßen dort vorzüglichen Fisch - natürlich nicht ohne ein Gläschen Wein dazu. Danach ging es mit einem Boot in das Naturschutzgebiet Ria Formosa, einem Stück Paradies, anders kann ich es nicht bezeichnen. Wir genossen das erfrischende Meerwasser, sammelten Muscheln und aßen Berliner am Strand, die uns in einem kleinen Boot gebracht wurden. Ich fühlte mich glücklich und sog jeden Augenblick in mich auf. Ganz bestimmt einer der schönsten Ausflüge in diesem Urlaub.

Zum Schluss darf der Bregenzer Wald nicht fehlen, in welchen wir gerne und viel reisen.
Am letzten Urlaubstag war es kühler als zuvor und es hatte morgens ein wenig geregnet. Das Bergrestaurant unserer Freunde war ziemlich leer und keiner rechnete mehr mit durstigen Wanderern. Um kurz nach 16 Uhr kam plötzlich eine Gruppe mit ca. 50 Holländern, zum Großteil geistig behinderte Erwachsene. Schnell packte ich mein Instrument aus und begann zu spielen. Die Gäste freuten sich und ein junger Mann tanzte direkt vor meiner Nase zu "Oh when the Saints go marching in". Bei "Let it be" sangen oder summten alle mit. Um 17 Uhr fuhr die letzte Seilbahn ins Tal und wir verabschiedeten uns. Einer aus der Gruppe schüttelte mir lange die Hand und sagte immer wieder: "Danke. Danke."

Bleibt mir abschließend der Spruch meines Großvaters: "Wenn einer eine Reise tut - dann kann er was erzählen.".


Axel Berg oder: Ein viel zu früher Abschied

Oben links blauer Balken mit weißer Schrift "Axel Berg, Ein viel zu früher Abschied";im Hintergrund ein Foto: von Axel Berg, unten links ein grüner Störer mit "Annes Blog" in normalschrift und Braille

Die Nachricht traf mich wie ein Hammerschlag. Unser langjähriger Kollege Axel Berg in der Nacht auf den 23. Februar verstorben? Mit 57 Jahren? Auch die anderen Kollegen konnten es nicht fassen. Von einer Kollegin erfuhr ich, dass er sich in den vergangenen Monaten sehr zurückgezogen hatte, weswegen man ihn in der letzten Zeit selten antraf.

Ich beschloss, ihm mit diesem Artikel ein "Denkmal" zu setzen und unsere lange Kollegialität auf diese Weise zu würdigen.

1989 startete Axel seine Papenmeier-Karriere in der Software-Entwicklung. Bis 2004 erfüllte er Aufgaben in verschiedenen Bereichen. Als ich Mitte Juli 2001 im Bereich Produktmanagement / Medizinprodukteberatung anfing, saß ich mit Axel im selben Großraumbüro. Hier arbeitete er als Projektmanager. Axel koordinierte Termine und war auf zahlreichen Messen und Ausstellungen vertreten - genau wie ich.

Lebhaft kann ich mich an meine erste Ausstellung mit Axel erinnern, die am 12.09.2001 im Bayerischen Blindenbund in München stattfand. Während der langen Autofahrt auf regennassen Straßen waren die Terroranschläge in den USA vom 09.11. tags zuvor Gesprächsthema Nummer eins. Als ich auf der Rückfahrt spät am nächsten Abend meinen Mann anrief und dazu mein Siemens S6 Handy aus der Tasche holte, welches sogar noch eine kleine Antenne besaß, bemerkte Axel grinsend: "Was ist das denn für ein Tennisschläger? Kappe ab." Nach dem Telefongespräch verstaute ich den Wahnsinnsapparat in seinem damaligen Behältnis. Axel bemerkte trocken: "Nun aber wieder rein in den Waschlappen."

Am Ende des Monats standen wir gemeinsam mit anderen Kollegen am Messestand auf der RehaCare in Düsseldorf. Am Nachmittag des letzten Messetages mussten Axel und ich mit unserem damaligen Fachbereichsleiter Jürgen Bornschein zu einer Gerätepräsentation im Rahmen einer Kunstaustellung nach Dortmund. Es versteht sich von selbst, dass wir uns nach einer solchen Woche nicht gerade in Hochstimmung befanden. Während der Autofahrt grummelte Axel: "Jetzt baue ich den Mist auf. Dann spielst du Kasperletheater, und ich kann später den Mist wieder abbauen." Wir überstanden es tatsächlich, mit einem netten Essen als Abschluss.  

Ebenso waren Axel und ich viel zusammen unterwegs, wenn es um Vorführungen oder Einweisungen bei Kunden in NRW ging. Einmal gurkten wir durch die Prärie bis Porta Westfalica, um das damals noch recht neue Braille-Notizgerät BRAILLEX Elba vorzuführen. Dabei stellte sich heraus, dass der Interessent mit allem ausgestattet war, nur nicht mit Papenmeier-Geräten. Er wollte sich unser ELba einfach aus Neugier zeigen lassen, bekundete jedoch kein näheres Interesse. Das Ende des Kundenbesuchs war ein gemütliches kroatisches Restaurant, in dem wir unsere Enttäuschung buchstäblich hinunterschluckten.

Genauso gut konnten wir nach solchen Besuchen Erfolge verbuchen. So erhielt eine gehörlose, fast blinde junge Frau ein Braillegerät, mit dem sie bis zu ihrem viel zu frühen Tod gerne arbeitete.

Axels trockener Humor, stets gekrönt mit seinem Lieblingsausspruch "Kappe ab" war einzigartig. Diesen tat er auch, als ich im Jahr 2002 mit meinem Mann nach Neuseeland in den Urlaub flog. In Singapur fiel mir ein, dass an dem Abend mein Lieblingsfußballclub, dessen Namen beim BVB nicht genannt werden darf, im DFB-Pokal gespielt hatte. Es war zu der Zeit noch nicht möglich, das Ergebnis schnell mit dem Smartphone nachzuschauen. Was tun? Axel anrufen. Wenn einer es wusste, dann er. "Wo seid ihr?" rief er erstaunt aus? "Was? Und deswegen ruft ihr mich an? Na gut: zwei zu null gewonnen. Kappe ab - auch wenn es nicht der BVB war. Schönen Urlaub." Den konnte ich nun wahrlich beruhigt antreten.

Im Jahr 2004 wechselte Axel vom Angestelltenverhältnis zum freien Handelsvertreter in den Vertrieb der Papenmeier Reha-Technik. Weiterhin fuhren wir häufig zu Kundenterminen oder Ausstellungen. Auf den meist längeren Autofahrten sprachen wir über Fußball, unsere Lieblingsclubs, die nicht wirklich gemeinsame Wege bestritten und spielten uns frotzelnd die virtuellen Bälle zu.

Wir hatten allerdings nicht nur geschäftlich miteinander zu tun. Jedes Jahr in der Adventszeit besuchten wir mit anderen Kollegen die "Night of the Proms" in der Dortmunder Westfalenhalle. Gerne lästerte Axel über manch alternden Pop Star wie den Sänger der Gruppe Supertramp. Als er in weißem Anzug auf die Bühne kam, kommentierte Axel: "Na den haben sie aber auch aus dem Altersheim geholt."

Live-Konzerte von Phil Collins und Rod Stewart erlebten wir ebenfalls.

Axel war sehr großzügig, wenn es darum ging, Kolleginnen und Kollegen seine Anerkennung zu zeigen. Zum Geburtstag bekamen die Damen, mit welchen er viel zusammen arbeitete, einen Blumenstrauß. Nachdem Axel in seine neue Wohnung gezogen war, lud er einige Kolleginnen zu einem Einstandsmittagessen ein. Erst gab er vor, selbst kochen zu wollen. Doch kurz bevor wir zu seinem neuen Domicil aufbrachen, rief Axel an. "Welche Pizza willste? Frag mal die anderen." Die bestellten Pizzen schmeckten vorzüglich und wir hatten eine gemütliche Mittagspause.

Als Axel längere Zeit im Krankenhaus lag und sich danach eine Reha-Maßnahme anschloss, schickten wir ihm ein "Care-Paket" in die Klinik.  

Die Corona-Krise veränderte alles. Die Fahrten zu Kunden sowie sämtliche Ausstellungen wurden vorübergehend eingestellt. Sowohl Axel als auch ich verbrachten unseren Arbeitsalltag überwiegend im Homeoffice. Dadurch sahen wir uns eher selten, was sich auch nach der Corona-Zeit nicht wesentlich änderte. Ich glaube, das letzte Mal habe ich Axel irgendwann vor Weihnachten 2023 kurz getroffen, Jedoch verließ er das Firmengebäude bald wieder. Immer seltener ließ er von sich hören und konnte nur noch sehr wenige Termine wahrnehmen. Nun weilt Axel nicht mehr unter uns. Er lässt sehr traurige, erschütterte Kolleginnen / Kollegen zurück, die seinen Tod kaum begreifen können. Wir werden Axel immer in guter Erinnerung behalten. Nie werde ich vergessen, was wir zusammen erlebten - ein Hoch auf diesen tollen Kollegen - Kappe ab!